Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Elfriede Lohse-Wächtler

(4.12.1899 Dresden - 31.7.1940 Pirna)
Malerin; Opfer der Euthanasie
Garten der Frauen, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756 (Erinnerungsstein)
Friedrichsberger Straße/Dehnhaide (Rosengarten)
Namensgeberin für: Elfriede-Lohse-Wächtler-Weg


3084 Lohse Waechtler Elfriede
Foto: Nachlass Elfriede Lohse-Wächtler

Elfriede Wächtler wurde am 4.12.1899 als Tochter des Angestellten Adolf Wächtler und seiner Ehefrau Sidonie, geb. Ostadal, in Dresden geboren. Sie zog bereits mit siebzehn Jahren aus dem gutbürgerlichen Elternhaus aus, weil sie sich weigerte, den Vorstellungen ihres Vaters zu folgen, trotz ihrer künstlerischen Begabung zunächst einen „ordentlichen“ Beruf zu erlernen und sich als Bühnenbildnerin, Kostüm- und Modellschneiderin ausbilden zu lassen. Um jedoch ihrem Vater entgegenzukommen, besuchte sie 1915/16 an der Dresdner Königlichen Kunstgewerbeschule zunächst die Fachklasse „Mode“ und danach erst die Fachklasse „Angewandte Graphik“.
Im Freundeskreis von Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Griebel und Kurt Lohse lebte sie mit Beginn ihres Studiums unter dem Pseudonym „Nikolaus Wächtler“; Freunde nannten sie „Laus“. Sie kleidete sich männlich, schnitt sich das Haar kurz und rauchte auf der Straße Tabak. Mit Gebrauchsgrafik, Batik, Holz- und Linolschnitten verdiente sie sich als „Kunstgewerblerin“ in Dresden ihr Studium und ihren Lebensunterhalt. In dieser Lebensphase spiegelte sich ein typischer Zug von Verweigerung, sich dem zu dieser Zeit vorherrschenden Weiblichkeitsideal mit entsprechendem Benehmen unterzuordnen und „gefällig“ bürgerlich zu arbeiten. Gemeinsam mit ihren Freunden nahm sie rege am künstlerischen und politischen Leben in Dresden teil. Gemeinsam mit Otto Griebel besuchte sie Versammlungen des Spartakusbundes und begann sich mit politischen und sozialen Fragen zu beschäftigen. Sie war eine begeisterte Anhängerin des „Neuen künstlerischen Tanzes“ von Mary Wigman und trat zuweilen auch in selbst entworfenen und geschneiderten Kostümen in Tanzrollen auf.
1921 heiratete Elfriede Wächtler ihren Studienfreund, den Maler und Opernsänger Kurt Lohse, und nannte sich fortan Elfriede Lohse-Wächtler. Das Ehepaar Lohse richtete sich im Jahr 1921 gemeinsam mit dem Dresdner Maler Otto Griebel im Werkleiterhaus des aufgegebenen Schreckenbachschen Steinbruchs bei Wehlen in der Sächsischen Schweiz ein Atelier ein. Dort lebten sie für einige Zeit, wenn auch unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Doch bereits nach einiger Zeit mussten sie wegen finanzieller Schwierigkeiten das Atelier wieder verlassen.
Die Ehe gestaltete sich von Beginn an als äußerst schwierig. Bereits nach zwei Jahren trennte sich das Paar erstmals. 1925 zog es jedoch gemeinsam nach Hamburg, wo es für ein Jahr zusammenlebte. Kurt Lohse war damals an Lungentuberkulose erkrankt, und seine Frau wollte ihm beistehen. Nach einem relativ harmonischen, auch künstlerisch reichen Jahr, traten alte Schwierigkeiten verschärft wieder auf.
Im Jahr 1926 kam es dann zum endgültigen Zerwürfnis, insbesondere, weil Kurt Lohse eine Beziehung zu einer anderen Frau einging. Obwohl Kurt Lohse mit der anderen Frau zusammenlebte, gab es aus finanziellen Gründen wegen vieler Kleinigkeiten noch Begegnungen mit seiner Ehefrau, bei denen es oftmals auch zu Streitigkeiten kam, die, wie schon in Dresden, sehr heftig waren. Elfriede Lohse-Wächtler musste miterleben, wie der Mann, mit dem sie noch verheiratet war, in wenigen Jahren mehrmals Vater wurde. Sie selbst hatte sich immer Kinder gewünscht, eine Fehlgeburt erlitten und aus Sorge um ihre unsichere finanzielle Existenz mehrere Abtreibungen vornehmen lassen.
In Elfriede Lohse-Wächtlers Hamburger Zeit von 1925 bis 1931 entstand ein Großteil ihres thematisch breit gefächerten Werkes: Schonungslose Selbstbildnisse, Bordellszenen, Vorstadtlandschaften, Akte, Visionen und Stillleben. Im Jahre 1928 hatte sie mit dem „Bund Hamburger Künstlerinnen und Kunstfreundinnen“ ihre erste viel beachtete Ausstellung im Stil der Neuen Sachlichkeit. Ein Kritiker lobte sie als „eine der stärksten Hamburger Begabungen“ und hob besonders die „ausgezeichneten Aquarelle“ der bis dahin unbekannten Malerin hervor.
Im Februar 1929 erlitt sie einen nervlichen Zusammenbruch mit Symptomen von Verfolgungswahn. Ihr Bruder und der gemeinsame Freund Johannes A. Baader – bekannt geworden als Dadaist – brachten sie in die psychiatrische Klinik Hamburg-Friedrichsberg, wo sie sich während eines zweimonatigen Aufenthalts wieder einigermaßen erholte. Im März 1929 schrieb Johannes A. Baader an Otto Dix: „Wären Geld und Haus und Menschen, die sich ihr ausschließlich widmen könnten, vorhanden gewesen, so hätte sich die Einweisung in die psychiatrische Klinik (vielleicht) erübrigt. Das Einschnappen in die pathologische Situation ist ausgelöst worden durch das allmählich eintretende völlige Versagen der Existenzmöglichkeit; dazu kam das Ringen zwischen Kurt Lohse und ihr, und die Notwendigkeit, den Besitz von K. L. (dem sie zutiefst und unaufhörlich verknüpft ist) mit einer anderen Frau zu teilen. So rettete sie sich, wie der psychologische Terminus lautet, in die Krankheit.“
In der Klinik Hamburg-Friedrichsberg entstanden zahlreiche Zeichnungen. Sie erlangten unter dem Namen „Friedrichsberger Köpfe“ Berühmtheit. Es handelt sich um Studien von Anstaltsinsassen, die der Malerin bei einer Ausstellung 1929 im Hamburger Kunstsalon Maria Kunde höchstes Kritikerlob und den künstlerischen Durchbruch brachten. Das Hamburger Fremdenblatt teilte am 25. Mai 1929 mit: „Ihre Kollektion fesselte unbedingt stark und nachhaltig, die Kraft und der Gehalt vieler dieser Zeichnungen heben sich hoch über den Durchschnitt empor.“ Der Hamburger Anzeiger äußerte am 27. Mai 1929: „Elfriede Lohse-Wächtler ragt gegenüber dem heutigen Niveau empor – sie ist entschieden eine Entdeckung.“
Die Hamburger Kritikerin Anna Banaschewski widmete der Künstlerin den ersten monographischen Aufsatz in der Zeitschrift „Der Kreis“. Sie hob insbesondere die „eminente psychologische Intuitionsgabe“ von Elfriede Lohse-Wächtler hervor. Im Anschluss an die Ausstellung im Kunstsalon Maria Kunde erwarb die Hamburger Kunsthalle im Jahr 1929 zwei Bilder der „Friedrichsberger Köpfe“. Die meisten dieser Bilder sind heute verschollen, einige sind im Privatbesitz.
Die Stabilisierungsphase nach dem ersten Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik war nicht von langer Dauer. Innerlich zerfahren, rastlos arbeitend, in größter Armut – es fehlte manchmal sogar an Geld für das Briefporto -, trieb es die Künstlerin zu anderen gesellschaftlichen Außenseiterinnen und Außenseitern. Vorübergehend lebte sie als Obdachlose im Hamburger Prostituiertenmilieu. Bahnhofswartehallen, der Hafen, die Straßen wurden zu ihren häufigsten Aufenthaltsorten und zu Themen großartiger Bilder. Ihre Selbstportraits, aber auch die Bilder von Arbeitern, Marktfrauen, Prostituierten und „Zigeunern“ sind einerseits geprägt von fast schon übersteigertem Realismus, andererseits von ihrer schonungslosen Anteilnahme für die Not anderer Menschen.
Im Jahr 1931 kehrte sie vollkommen mittellos und psychisch stark angegriffen in ihr Elternhaus nach Dresden zurück. Sehr bald schon kam es hier zu erneuten heftigen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater. Als sie im darauf folgenden Frühjahr wegen einer Fußverletzung im Krankenhaus in Dresden behandelt werden musste, nutzte der Vater diese Gelegenheit, sie von dort ohne Umweg über das Elternhaus in die Krankenanstalt Arnsdorf bringen zu lassen.
Das war im Juni 1932, ein gutes halbes Jahr vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Als der Vater die Aufnahme seiner Tochter in Arnsdorf erwirkte, konnte er nicht ahnen, dass er sie damit letztlich ihren Mördern auslieferte. Schon nach wenigen Wochen in der Krankenanstalt Arnsdorf flehte sie ihre Eltern an, sie wieder heimzuholen. Doch alle ihre verzweifelten Bitten blieben vergeblich. Acht Jahre, bis zu ihrer Ermordung in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, sollte sie die Klinik Arnsdorf nicht mehr verlassen. Nur in der Anfangszeit ihres Aufenthaltes in Arnsdorf hatte sie das Recht, gemeinsam mit ihren Eltern Ausflüge in die Umgebung zu machen, wo sie gerne skizzierte und zeichnete; u. a. zum Schloss Wesenstein in der näheren Umgebung von Pirna.
Auch in der Krankenanstalt Arnsdorf selbst entstanden zahlreiche Bilder, doch ihre Möglichkeiten, kreativ zu arbeiten, waren äußerst beschränkt, der Austausch mit verständnisvollen Menschen war bis auf den Briefwechsel mit ihren Eltern und ihrem Bruder abgeschnitten.
Sie sah zwar in den anderen Patientinnen ihre Leidensgenossinnen, aber sie beklagte die Unmöglichkeit, sich zurückzuziehen. In Arnsdorf wurde 1932 als Krankenbild „Schizophrenie“ in die Krankenakte eingetragen und später nicht mehr überprüft oder revidiert. Der Eintrag „Schizophrenie“ kam in dieser Zeit einem Todesurteil gleich, denn die „Euthanasie“-Ärzte hatten „Schizophrenie“-Kranke als potentielle Volksschädlinge klassifiziert und zur Tötung freigegeben. Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 in Deutschland an die Macht kamen, dürfte kaum jemand geahnt haben, welch tödliche Bedrohung damit für kranke und behinderte Menschen verbunden war; auch nicht die Eltern von Elfriede Lohse-Wächtler. Die Nationalsozialisten sahen Kranke als „Ballast-Existenzen“ an, und eine ihrer ersten Maßnahmen war das bereits im Jahr 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zur Grundlage aller folgenden Unmenschlichkeiten gegen die so genannten „nutzlosen Esser“ wurde. Eine einschneidende Konsequenz des Gesetzes war die Kürzung der Pflegesätze für psychiatrische Anstalten. Diese wurden Ende der dreißiger Jahre nochmals drastisch reduziert. Hunger, Unterernährung und vermehrte Sterbefälle in den Anstalten waren die kalkulierten Folgen.
Im Oktober 1933 erfuhr Elfriede Lohse-Wächtler von der Ausstellung „Entartete Kunst“ in Dresden, die ihren Freunden die Existenzgrundlage raubte. Bilder von ihr wurden in dieser Ausstellung nicht gezeigt, wohl aber nachweislich aus den Museumsbeständen entfernt, u. a. auch Bilder aus dem Altonaer Museum in Hamburg.
Im Mai 1935 wurde Elfriede Lohse-Wächtler auf Antrag ihres Mannes geschieden. Im Dezember 1935 versetzten die NS-Ärzte Elfriede Lohse-Wächtler einen weiteren Schlag, der sie endgültig innerlich zerbrechen ließ. Sie wurde zwangssterilisiert. Ihren Widerspruch gegen diese Anordnung hatte man ignoriert, die Eingaben der Familie wurden mit dem vorübergehenden Entzug des Besuchsrechts beantwortet. Die Künstlerin wurde entmündigt und einem staatlichen Vormund unterstellt. Nach der entwürdigenden Sterilisation hat sie keine Bilder mehr gemalt, sie hat nur noch einige Postkarten verziert, u. a. auch die Postkarte vom 5. März 1940 mit Ostergrüßen an ihre Mutter.
Im Sommer 1940 entschlossen sich die Eltern endlich, ihre Tochter für fünf Wochen aus der Anstalt zu sich zu nehmen. Sie hatten deren schlechte körperliche Verfassung erkannt und machten sich vielleicht sogar ernsthafte Sorgen um das Leben ihrer Tochter. Zu spät! Elfriede Lohse-Wächtler war in die Mühlen der Bürokratie geraten und nicht mehr zu retten. Im September 1939 war die in der Berliner Tiergartenstraße 4 („T4-Aktion“) beschlossene Massentötung von behinderten Menschen angelaufen. Die Selektionslisten hatten auch die Krankenanstalt in Arnsdorf erreicht. Elfriede Lohse-Wächtler wurde am 31.7.1940, dem Tag, als die Mutter sie zu ihrem Urlaub abholen wollte, nach Pirna-Sonnenstein gebracht, eine der sechs großen deutschen Vernichtungsstätten, und noch am selben Tag mit CO-Gas umgebracht. Systematisch sollte die Mordaktion gegenüber den Angehörigen verschleiert werden. Den Eltern wurde zwei Wochen später brieflich mitgeteilt, dass ihre Tochter nach Brandenburg an der Havel verlegt wurde und dort „trotz aller Bemühungen der Ärzte, die Patientin am Leben zu erhalten, an einer Lungenentzündung mit Herzmuskelschwäche“ verstarb.
Dank ihres Bruders, Hubert Wächtler, sind zahlreiche Unterlagen zu und Bilder von Elfriede Lohse-Wächtler erhalten geblieben. Nach dem Tod des Bruders im Jahre 1988 wurde der Nachlass der Malerin Elfriede Lohse-Wächtler durch namhafte Kunsthistoriker gesichert und bewertet. Durch die intensive Aufarbeitung des Nachlasses durch die Kunsthistoriker und durch die Initiativen und Bemühungen vieler Förderer ist es möglich geworden, posthum das Lebenswerk von Elfriede Lohse-Wächtler zu würdigen und ihr wieder einen Namen, ein Gesicht und eine Stimme in der Kunstgeschichte Deutschlands zu geben.
Seit Jahr 1990 wurde das Leben und das Werk der Malerin Elfriede Lohse-Wächtler durch zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen wieder bekannt gemacht.
Seit 2008 gibt es im Hamburger Stadtteil Barmbek-Süd einen Elfriede-Lohse-Wächtler-Weg.
An der Friedrichsberger Straße/Dehnhaide befindet sich seit 2004 ein Elfriede Lohse-Wächtler Rosengarten. Er wurde im Parkgelände des ehemaligen Krankenhauses Friedrichsberg angelegt.
Text: Marianne und Rolf Rosowski, Nachlassverwaltung von Elfriede Lohse-Wächtler