Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Zitronenjette Zitronenjette, Taufname: Johanne Henriette (Jette) Marie Müller

(18.7.1841 in Dessau - 8.7.1916 in der "Irrenanstalt Friedrichsberg")
Garten der Frauen, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756 (Erinnerungsstein)
Teilfeld 56 (Wohnadresse)
Namensgeberin für: Jette-Müller-Weg


3086 Zitronenjette
Bild aus Paul Möring: Drei Hamburger Originale. Hamburg o. J.

Als uneheliches Kind in Dessau geboren, zog ihre Mutter wenige Monate nach der Geburt mit ihrem Kind nach Hamburg. Dort heiratete sie und bekam noch mehrere Kinder. Als der Vater an einem Schlaganfall starb, zog Johanne Henriette mit ihrer jüngeren Schwester zusammen und wohnte mit ihr zuerst in der Rothesoodstraße und zuletzt am Teilfeld 56.
Schon als Kind hatte Johanne Henriette Müller auf Hamburgs Straßen Zitronen verkaufen müssen. Diese Tätigkeit wurde ihre Haupterwerbsquelle bis sie im Alter von 53 Jahren in die "Irrenanstalt Friedrichsberg" eingewiesen wurde.
Die Zitronenjette hatte ein leidvolles Leben ertragen müssen. Johanne Henriette Müller war kleinwüchsig, 130 cm lang, 35 Kilo leicht und hatte eine dicke Knollennase. Damit fiel sie aus dem Rahmen des als normal angesehenen Erscheinungsbildes. Aber damit nicht genug: Johanne Müller galt auch als geistig ein wenig zurückgeblieben. Der Psychiater Prof. Dr. Wilhelm Weygandt führte die Zitronenjette in seinem Buch "Erkennung der Geistesstörungen" auf und bezeichnete sie als "Sporadisch-myxödematöse, harmlose Schwachsinnige mit Zwergwuchs (130cm)". (Paul Möhring: Die Hamburger Originale. Hamburg o. J.)

Ausschnitt aus dem szenischen Rundgang "Noch mehr Theater mit den Frauen". Zitronenjette gespielt von Herma Koehn, Stadtführerin: Rita Bake.
Viele ihrer Kundinnen und Kunden hauten sie übers Ohr. Kaum jemand machte sich Gedanken über Zitronenjettes desolate wirtschaftliche Situation: sie war arm. Und nur wenige dachten daran, was man ihr seelisch antat, wenn sie zum Gespött der Straßenjugend wurde, die grölend hinter ihr herlief. Die aus dem Hamburger Bürgertum stammende Emilie Weber schrieb in ihren Jugenderinnerungen über die Zitronenjette: "ein kleines, untersetztes, schwachsinniges Wesen, welches aus einem Körbchen Zitronen zum Verkauf anbot. Durch ihr scheues, sonderbares Gebaren erregte sie den Spott und die Lachlust unserer lieben Straßenjugend und wurde vielfach von ihr verfolgt und gehänselt. Als ich erwachsen war, habe ich die Ärmste oft unter meinen Schutz genommen und sie eine Strecke mit mir gehen lassen, wenn sie mich weinend darum bat und sich vor ihren Verfolgern nicht retten konnte. Solch arme, wehrlose Geschöpfe taten mir immer leid." (Emilie Weber: Meine Jugenderinnerungen von 1836 bis 1851. Leipzig 1901. Vgl.: Johannes Sass: Hamburger Originale und originelle Hamburger. Hamburg 1962.)
Aber nicht nur die Jugend jagte sie. Wenn die Zitronenjette abends in den Kneipen ihre Zitronen anbot, machten sich Kneipenbesucher einen Spaß daraus, ihr ein großes Glas Schnaps bringen zu lassen, das sie zur allgemeinen Belustigung auf einen Zug leerte. Die Folge war: sie wurde alkoholkrank und trank nun auch schon am Tage eine Flasche Kümmelschnaps leer. Danach fand sie oft kaum noch den Heimweg. Ihr Getorkel bot den Kindern und Jugendlichen zusätzlichen Anlass, grölend hinter ihr herzulaufen. Häufiger kam es auch vor, dass die Polizei sie im betrunkenen Zustand aufgriff. Dann wurde sie unter großem Hallo auf eine Karre gelegt und zur Ausnüchterung zur Polizeiwache oder zum Kurhaus gefahren.
1894 wurde Zitronenjette schließlich von der Polizei in die "Irrenanstalt Friedrichsberg" eingeliefert. Dort lebte sie fast zwanzig Jahre und wurde mit Kartoffelschälen und Gemüseputzen beschäftigt. Zeitungsberichten und Erzählungen zufolge soll sie dort einen "friedlichen Lebensabend" genossen haben. Kein Wort von schmerzhaften Entzugserscheinungen, denn dort gab es keinen Alkohol.
Berühmt und zum Hamburger Original wurde die Zitronenjette, weil sie "anders" war und weil Menschen sich auf ihre Kosten amüsierten. Ihren Leiden wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Stattdessen gab sie den Stoff für eine Lokalposse, die um 1900, also noch zu Lebzeiten der Zitronenjette, von Theodor Francke geschrieben und im Ernst-Drucker-Theater auf St. Pauli aufgeführt wurde. In der Hauptrolle der damals als Darsteller weiblicher Rollen dieser Art berühmte Wilhelm Seybold. 1940 schrieb Paul Möhring eine neue Zitronenjette. Er wollte keine Lokalposse auf Kosten der Zitronenjette, sondern ein Stück, das die Zuschauerinnen und Zuschauer sowohl zum Lachen als auch zum Weinen bringen sollte. Mehrere hundert Male wurde seine Zitronenjette aufgeführt. Als Kurt Simon das Stück 1955 neu inszenierte, spielte zum ersten Mal eine Frau die Titelrolle: Christa Siems-Raider. Sie wurde mit dieser Rolle berühmt. In den 70er Jahren schlüpfte dann wieder ein Mann in die Rolle der Zitronenjette: Henry Vahl.
Heute wird das Stück nicht mehr aufgeführt. Aber es gibt ein Denkmal für die Zitronenjette, ziemlich verborgen und wenig beachtet am Rande der Ludwig-Ehrhard-Straße. Und es gab lange Jahre einen Zitronenjette-Preis, der seit 1985 einmal jährlich von der Hamburg Messe vergeben wurde, wobei der Landesfrauenrat Hamburg das Vorschlagsrecht besaß. Diesen Preis bekam eine nicht berufstätige Frau, die aus dem Kreis ihrer Familie herausgetreten war und sich ehrenamtlich in einem der Verbände, die dem Landesfrauenrat angeschlossen sind, besonders für Frauen engagiert hat. Wie passen die auf Grund ihrer Leistung geehrten Frauen mit der von der Gesellschaft verlachten Zitronenjette zusammen?
Seit 2007 gibt es in Hamburg Ohlsdorf den Jette-Müller-Weg.
Text: Rita Bake