Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Anita Rée

(09.02.1885 - 12.12.1933 in Kampen auf Sylt (Suizid))
Malerin der Hamburger Sezession
Alsterkamp 13 (Wohnadresse und Wirkungsstätte)
Caspar-Voght-Straße in der ehemaligen Mädchenoberschule (heute Ballettzentrum) Wandgemälde von Anita Rée
Fuhlsbüttler Straße 756, Ohlsdorfer Friedhof: Althamburgischer Gedächtnisfriedhof
Namensgeberin für: Anita-Ree-Straße


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Anita Rée Selbstbildnis ca. 1911; gemeinfrei, via Wikimedia Commons

„Mein Schmerz, dieser wühlende, nicht zu lindernde Schmerz, wird grösser von Tag zu Tag und untergräbt meine Gesundheit.“[1]
Diese Klage, die Anita Rée am Silvestertag des Jahres 1930 an Emmy Ruben richtet, kennzeichnet keinen vorübergehenden Zustand, sie könnte als Leitmotiv über ihrem gesamten Leben stehen. Anita Rée war wie keine andere der hier beschriebenen Künstlerinnen eine Fremde in der Welt.
Der Maler-Kollege Friedrich Ahlers-Hestermann erinnert sich an ihr Leben im Elternhaus: „Darüber schwebte ihre Malerei als eine seltsame Landschaft, ebenso wie – später – oben auf dem Dachboden sich ihr Atelier befand als ein fremder und zu diesem Hause eigentlich nicht gehöriger Raum, ein Raum, der gar nicht sehr günstig zum Malen war, für sie aber doch nun das eigentliche Lebenszentrum wurde. Als sie ihn hatte aufgeben müssen, hat sie ihn beklagt wie einen unersetzlichen Toten.“2 Als das Haus am Alsterkamp 13, ihr Refugium, einziger wirklicher Halt in einer Welt, in der sie sich nicht zurechtfinden konnte, verkauft wurde, lebte sie in ständig wechselnden Wohnungen, ärmlich und möbliert, ohne dass ihre finanziellen Verhältnisse das erfordert hätten. Schließlich floh sie 1932 nach Sylt, wo sie am 12. Dezember 1933 ihrem qualvollen Leben mit Veronal ein Ende setzte.
Geboren wurde Anita Rée am 09. Februar 1885 als zweite Tochter des jüdischen Kaufmanns Israel Rée, der im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft, als Unterhändler fungiert und bei der Reichsgründung 1871 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Die Mutter war Anna Clara Hahn, die in Venezuela geboren und katholisch erzogen worden war. Die Familie war so stark assimiliert, dass sie kaum noch als jüdisch zu erkennen war. Die beiden Mädchen, Emilia und Anita, wuchsen in einer kultivierten Sphäre liberalen Bürgertums als höhere Töchter auf. Sie gingen auf eine Privatschule und wurden protestantisch getauft und konfirmiert.
1905 wurde Anita Rée Schülerin des Hamburger Malers Arthur Siebelist, der wie Ernst Eitner und Arthur Illies zu den neuen Gründern des Hamburger Künstlerclubs von 1897 gehörte, einer Künstlervereinigung, die sich von der so genannten Braunen-Soße-Malerei in den Ateliers des späten 19. Jahrhunderts abwandte, sich um Farb-Licht-Probleme kümmerte und in der Natur malte. Siebelist unterhielt seit 1899 eine Malschule, in der Anita Rée die Freilichtmalerei und die klassischen Genres lernte. Doch bald stellten sich die immer wieder an ihr nagenden Zweifel an ihrem Können ein, auch hielt sie die Ausbildung bei Siebelist für unzureichend. Ihre Versuche, auswärts einen Lehrer zu finden, schlugen fehl. Max Liebermann bestätigte sie zwar in ihrer Begabung, nahm sie jedoch nicht als Schülerin an. Daraufhin schloss sie sich 1910 dem Siebelist-Schüler Franz Nölken an, der gerade aus Paris zurückgekommen war, wo er bei Matisse gearbeitet hatte, und malte mit ihm zusammen in seinem Atelier.
Nölken, der eine leidenschaftlicher Pädagoge war, freute sich zunächst, in Anita Rée jemanden gefunden zu haben, dem er die neu erworbenen, ihn völlig erfüllenden Erkenntnisse und Überlegungen mitteilen konnte. Anita Rée wurde in den elitär gesinnten Kreis ehemaliger Siebelist-Schüler der ersten Generation, zu dem Nölken und Ahlers-Hestermann gehörten, aufgenommen, die eigentlich auf ihre, die zweite Generation, herabsahen, glaubten sie doch zeitweilig, sie seien die neue Generation, von Lichtwark dazu bestimmt, den Hamburgischen Künstlerclub von 1897 abzulösen, eine Kontinuität hamburgischer Maler zu verbürgen und Lichtwarks Ideen reiner zu verkörpern als der Künstlerclub mit seiner überwiegend landschaftlichen Betätigung. Doch bald fühlte sich Franz Nölken in seiner Freiheit bedroht. Er reiste ab und ließ eine tief gekränkte Anita Rée zurück. Im Winder 1912/13 ging sie, angeregt durch die Erfahrungen Nölkens und Ahlers-Hestermanns, nach Paris und wurde Schülerin von Fernand Léger.
Von 1913 bis 1922 lebte sie dann als freischaffende Künstlerin in Hamburg im Haus ihrer Eltern. Die einzige längere Unterbrechung war 1916 ein Aufenthalt in Blankenheim in Thüringen in einer Erholungsstätte für Künstler und Wissenschaftler. 1913 nahm Anita Rée an einer Ausstellung bei Commeter teil und gehörte fortan zur Hamburger Avantgarde. Gustav Pauli, der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, erwarb bereits 1915 Arbeiten der jungen Malerin für die Kunsthalle. Sie wurde Gründungsmitglied der Hamburger Sezession, gehörte zur Leitung und Jury der ersten Ausstellung der Sezssionsmaler und stellte selbst regelmäßig aus.
Der dreijährige Aufenthalt in Positano in Italien von 1922 bis 1925 wurde für sie zum Schlüsselerlebnis. Hier verfestigte sich ihre zunächst vom Impressionismus und dann von den französischen Malern Cézanne und Matisse beeinflusste Malerei zu einem neusachlichen Stil. Sie wurde bekannt, erhielt nach ihrer Rückkehr nach Hamburg zahlreiche Portraitaufträge (u.a. malte sie ihre Freundin Ilse Fromm-Michaels) sowie um 1930 von Fritz Schumacher Aufträge für zwei Monumentalwerke. Das Wandbild der „klugen und törichten Jungfrauen“ in der Gewerbeschule für weibliche Angestellte in der Uferstraße wurde 1942 zerstört, während das in der Oberrealschule für Mädchen in Hamm in der Caspar-Voight-Straße gemalte Wandbild „Orpheus und die Tiere“ heute noch zugänglich ist. Mehrere Ausstellungen (35 zu Lebzeiten, davon sieben Einzelausstellungen) mit ungewöhnlich guten Kritiken und hohe Preise dokumentieren ihre erstrangige Stellung. Die Malerkollegen und -kolleginnen, das Ehepaar Friedrich Ahlers-Hestermann und Alexandra Povorina, Alma del Banco und Gretchen Wohlwill waren ebenso ihre Freunde wie Magdalene und Gustav Pauli, Hildegard und Carl Georg Heise (Nachfolger von Gustav Pauli als Direktor der Kunsthalle), Ida und Richard Dehmel und die Familie Warburg.
Doch weder der berufliche Erfolg noch der große Freundeskreis, in dem sie zuweilen ausgelassen und fröhlich war, konnten ihr zerrissenes Wesen heilen. Hinzu kam das Scheitern der Liebe zu dem Buchhändler und Künstler Christian Selle, die ihren Aufenthalt in Italien begleitet hatte. Sie endete 1926 ebenso unglücklich wie die unerwiderte frühe Liebe zu Franz Nölken und die zu dem Hamburger Kaufmann Carl Vorwerk Anfang der 30er-Jahre. Die Kompromisslosigkeit und Verletzbarkeit Anita Rées wird in folgender Episode besonders deutlich: Als die auch von Gretchen Wohlwill als „katastrophal“ empfundene Jury der Sezessionsausstellung von 1927 ihr Bild „Weiße Bäume“, das sie für ihr bestes hielt, nicht ausstellen wollte, zog sie alle Bilder zurück, stellte bis 1932 gar nicht mehr in der Sezession aus – und auch dann nur ein einziges Bild. Das Aufkommen nationalsozialistischer Tendenzen kann ihr Weltverhältnis nur bestätigt haben. 1932 wurde ihr für den Neubau der Ansgarkirche in der Langenhorner Chaussee gemaltes Altarbild aufgrund „kultischer Bedenken“ vom Kirchenvorstand der Ansgargemeinde abgelehnt. Im gleichen Jahr verlor sie ihre Wohnung in der Badestraße. „Ich musste da zu meinem grössten Kummer das Zimmer aufgeben, wusste in meiner Not nicht wohin mit all meinen Sachen, (die nun sehr provisorisch im Keller lagern) u. da ich in Hbg. keine Bleibe mehr hatte, begab ich mich hierher in tiefster Einsamkeit und ohne je zu malen oder daran zu denken“,[1] schreibt sie am 14. November 1932 von Sylt aus an Emmy Ruben.

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Aquarell: „Hühner im Schnee“ (1932/33) von Anita Reé. Copyright: Hans-Jürgen Schirmer

Ein Jahr später, am 02. Dezember 1933, zehn Tage vor ihrem Suizid, heißt es in einem Geburtstagsbrief an eine Schweizer Freundin: „Ich bin Dir sehr, sehr dankbar, daß Du mir die Basler Zeitung schicktest, die soviel Lesenswertes, das man sonst nie zu Gesicht bekommt, aber auch so viel Tiefergreifendes, Trostloses enthält, daß ich beim Lesen dieses entsetzlichen Aufsatzes aus Berlin bitterlich geweint habe. Diese Dinge bringen mich um alle Fassung; ich kann mich in so einer Welt nie mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst und ohne irgendeinen Menschen – in so einer unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen Welt weiter einsam zu vegetieren und allmählich an ihren Grausamkeiten innerlich zugrundezugehen? ... Wenn ich nicht ans Sterben denke (und Muttis Todestag verdoppelt diese Sehnsucht) so kenne ich nur noch den einen, ständigen Gedanken: fort, fort aus diesem Land! Aber wohin?? und wo ist es besser?? ... Den Töchtern herzliche Grüße von Deinem jetzt ganz weißhaarigen, nicht wiederzuerkennenden Reh.“
Die aparte, exotisch aussehende Frau, die ebenso liebenswürdig und bezaubernd wie schwermütig, unglücklich und hart sein konnte, setzte ihrem Leben am 12. Dezember 1933 ein Ende. Liest man die einfühlsamen Worte des Freundes Gustav Pauli an ihrem Grab, so wird einmal mehr deutlich, dass ihr, wie Heinrich von Kleist in seinem eigenen Abschiedsbrief an die Schwester schreibt, „auf Erden nicht zu helfen war“: „Dem praktischen Leben und seinen Forderungen stand sie hilflos gegenüber , so hilflos, daß sie schließlich das Leben fürchtete. – Im Norden geboren, doch südlichen Geblüts, verzehrte sie sich in Sehnsucht nach Sonne und der heiteren Sorglosigkeit des Lebens südlicher Völker. Und doch liebte sie das Leben. Wir wissen es, sie konnte froh sein mit den Fröhlichen, scherzen und lachen bis zur Ausgelassenheit und auf Stunden vergessen, was im Grunde ihrer Seele als Schwermut ruhte.“[2]

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Urne für Anita Ree im Althamburgischen Gedächtnisfriedhof, Quelle: Verein Garten der Frauen e. V.

Im Oktober 1995 wurde Anita Rées Urne dank der Bemühungen Hans-Heinz Pukalls auf den Althamburgischen Gedächtnisfriedhof umgebettet. Der Friedhof des alten Krematoriums an der Alsterdorfer Straße mit der bisherigen Ruhestätte Anita Rées war bereits seit Jahrzehnten aufgegeben. Heute liegt ihr Grab gegenüber dem der Familie Runge. Die Überurne hat Hans-Heinz Pukall aus Originalstücken aus den 20er-Jahren zusammengetragen.
Anita Rées Nachlass, den die Freundin Hildegard Heise photographisch festhielt, wurde gemäß testamentarischer Verfügung an ihre Freunde verteilt. Ein Teil ihrer Werke – wie ihre italienischen Landschaften und das Altarbild für die Ansgarkirche – fielen Bombenangriffen zum Opfer. 14 Zeichnungen und zwei Aquarelle wurden in der Aktion „Entartete Kunst“ 1937 beschlagnahmt, ihre Gemälde stellten Mitarbeiter der Kunsthalle zur Seite. Die Kunsthalle besitzt damit die größte Sammlung von Arbeiten Anita Rées, die in den letzten Jahren noch durch drei Ankäufe erweitert wurde.
Seit 1984 gibt es in Hamburg Bergedorf eine Anita-Ree-Straße.
Text: Brita Reimers