Wiltrud Schwärzel
(12.5.1942 Meisenheim am Glan/Rheinland-Pfalz – 20.7.2009 Oberndorf an der Oste/Niedersachsen)
Hochschulprofessorin, Frauenrechtlerin, Psychotherapeutin
Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft: Von-Melle-Park 8 (Wirkungsstätte)
Kurzvita: verheiratet, keine Kinder, Diplom-Psychologin, approbierte psychologische Psychotherapeutin, Pädagogin; langjährig freie Mitarbeiterin in der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung für die Bereiche Rollenspiel, Soziodrama, Planspiel. Ab 1971 Dozentin am Sozialpädagogischen Zusatzstudium, SPZ, Hamburg, bis 2002 Dozentin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Ab 2003 Dozentin der FRAUENSTUDIEN Hamburg (siehe unter: Frauenstudien-Frauenforschung).
Zwei Schwerpunkte: Gestalttherapeutische Elemente in der Bildungs- und Beratungsarbeit mit Erwachsenen und feministische Bildungsarbeit: 'Individuationswege von Frauen'; der Lebenszusammenhang von Frauen unter dem Nationalsozialismus; Ansätze zu einer Theorie des weiblichen Suizids; Frauenarbeit; Frauengesundheitsbewegung
1. Motivation
„Mein Weg verlief eher assoziativ als geplant. Seit frühester Kindheit bin ich sensibilisiert für Ungerechtigkeiten: Ehe ich überhaupt etwas von Sozialismus wusste, fragte ich mich schon, warum manche viel weniger Geld für harte Arbeit bekamen als andere. Später hat mich fasziniert, wie Frauen wieder anfingen, sich aus Einengungen zu befreien. Dann spielte bei mir meine erste Stelle an der Universität Hamburg Anfang der 1970er-Jahre eine Schlüsselrolle, am Sozialpädagogischen Zusatzstudium (SPZ), einer senatsunmittelbaren Einrichtung. Dieses Institut war ganz stark gesellschaftskritisch und sozialpolitisch orientiert, sozusagen der gesellschaftspolitische Schmelztiegel für die damals virulenten Themen in allen Fachbereichen. Unsere hochschulpolitischen Happening-Aktionen im Senatsausschuss und im Akademischen Senat waren gefürchtet!
Trotzdem: Ich bin spät aufgewacht! Am SPZ gab es drei hauptamtliche Dozenten, zwei Männer und eine Frau, nämlich mich, aber ich habe uns lange Zeit als gleich angesehen bis eine Lehrbeauftragte und ich anfingen, reine Frauenseminare anzubieten. Meine Schwerpunktthemen rund um den sogenannten Reproduktionsbereich habe ich von 1976 bis zum letzten Semester 2002 durchgehalten, auch dass meine Frauenseminare einen geistigen Raum ausschließlich für Frauen ermöglichten. Meine Laufbahn habe ich nicht gezielt gewählt oder entschieden. Nach meinem Examen in Psychologie standen meine Freundin und ich an der Elbe und fragten uns, was machen wir nun? Was dann folgte, war mehr von Zufällen als von bewussten Zielsetzungen und Entscheidungen geprägt.
2. Auswirkungen
Ich war lange Zeit Empiristin – habe quantitativ geforscht zu Themen wie dem Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulleistung! Wie habe ich mich damals als Statistikfan bei den Analysen meiner Daten im Rechenzentrum über jede neue Faktorenladung gefreut! Erst in meiner gestalttherapeutischen Ausbildung lernte ich, dass es noch andere Wirklichkeiten gibt. Sonst hätte ich mich bestimmt mit qualitativen – und ersten feministischen Forschungsansätzen, wie z.B. denen von Maria Mies, schwer getan. Auch der grundlegende Blickwinkel meines Forschungsinteresses richtete sich immer mehr weg von Defiziten hin auf Potenzen und Potentiale. Das wirkte sich auch auf die Art meiner Lehre aus. Ich konnte sie aufgrund meiner Mehrfachqualifikation immer lebendiger und kreativer gestalten. In meinem letzten mehrjährigen Forschungsprojekt, an dem ich immer noch arbeite, geht es darum, Möglichkeiten bikultureller Identitätsentwicklung bei Frauen in dualen kulturellen Milieus aufzuzeigen anhand von Erzähl-Interviews mit solchen Maori-Frauen in Neuseeland, denen das geglückt zu sein scheint.
In den frühen 1980er Jahren wurde das SPZ, an dem ich arbeitete, geschlossen. Da ich Beamtin auf Lebenszeit war, musste man für mich etwas anderes finden. Doch so recht wollte mich niemand haben: rot und Feministin! Ich wiederum wollte nicht eingeengt werden. Ich hatte Glück, ein wohlgesinnter Vizepräsident und ein liberaler philosophisch gegründeter Professor der Erwachsenenbildung ermöglichten mir dann, meine Arbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaften fortzusetzen. Die feministisch-philosophisch-politisch orientierte Frauenbildung führt jedoch selbst bei den Erziehungswissenschaften bis heute [gemeint ist das Jahr 2004, CG.] ein Schattendasein.
Ich kam vom Ansatz der Gleichheitspolitik. Erst Mitte der 90er beschäftigte ich mich mit den französischen Philosophinnen, wie Luce Irigaray und Hélène Cixous in einer Zeit und einem Klima, wo die Kategorie „weiblich“ als verdächtig galt. Ein Anstoß von Seiten der Studentinnen führte mich dann zu den italienischen Philosophinnen um Luisa Muraro und damit zu einem radikal anderen Denk-, Sprach- und Forschungsansatz, in dem die sexuelle Differenz und eine „weibliche“ symbolische Ordnung Bedeutung erhalten. Bis dahin hatte ich im Wissenschaftsbetrieb eher ein Gefühl von „Kein Ort – Nirgendwo“, wie ein Buchtitel von Christa Wolf lautet. Doch nun hatte ich zum ersten Mal wieder ein Gespür von leibgeistiger Heimat.
3. Verhältnis Feminismus – Gender
Da bin ich noch sehr skeptisch. Ist es nicht merkwürdig, ja des Aufmerkens würdig, in wie vielen Bezeichnungen von Arbeitsbereichen, Instituten u. ä. Begriffe wie Frau, Frauenforschung, Frauenstudien verschwunden sind? Seit mehr als 2000 Jahren haben wir eine symbolische Ordnung, die von Männern gemacht worden ist, und „diese Ordnungen sind das Wirksamste in einer Gesellschaft“ (Pierre Bourdieu). Gerade deshalb brauchen aus meiner Sicht Frauen einen geistigen Raum, in dem sie ungestört ihre Ideen, ihre Art des Denkens und Sprechens, ihre Arten von Begegnung, Beziehung, Verbundenheit entwickeln können. Ich bin der Ansicht, dass es immer noch eine abgrundtiefe Entwertung der Frauen gibt, auch von Frauen selbst. Das haben wir ja alle eingeatmet. Es hat ganz viel Arbeit gebraucht und gekostet, bis Frauen gelernt haben, einander zu respektieren. Ich befürchte, dass dies im „gender-trouble“ verloren geht – bis heute existiert nur eine männliche symbolische Ordnung und Frauen müssen sich anpassen. In den späten 1970er- und 80er Jahren boten viele Frauenseminare eigene geistige Räume – heute bewegen Frauen sich wieder vermehrt in den gemachten, symbolischen Ordnungsstrukturen, aber sie brauchen eigene (geistige) Räume. Ein erster solcher für mich wichtiger Raum zum disziplinübergreifenden Erfahrungsaustausch war der von Ingrid Sommerkorn um 1980 gegründete „Arbeitskreis Hochschullehrerinnen“.
4. Ko-Stelle [siehe unter: Frauenstudien-Frauenforschung]
Jeden Morgen, über 10 Jahre lang, bevor ich mein universitäres Arbeitszimmer in der Binderstraße erreichte, durchschritt ich zwei Frauenflure, vorbei an einer großen Küche mit all ihren Düften mitten im geistigen Raum. Und dann hing da an den Wänden die geballte Kraft vielfältigster Frauenaktivitäten, und auf dem Flur geschah so oft ein lebendiges sich Begegnen von Frauen. Das hat mir immer wieder Kraft gegeben und manchmal mich sogar beflügelt, meinen begonnenen Weg auch im normalen Wissenschaftsbetrieb weiter zu gehen. Ich bin immer wieder, auch schon als Mitglied der GK [Gemeinsame Kommission], voller Achtung für die enormen Leistungen von Dagmar Filter und Gisela Kamke und all den unterstützenden Frauen, wie sie es bis heute geschafft haben, innerhalb dieser Hochschulstrukturen auf den unterschiedlichsten Ebenen Räume für Frauen vorzubereiten, zu öffnen, zu initiieren, zu gestalten.
Dieses autorisierte Interviewporträt von Cornelia Göksu mit Wiltrud Schwärzel wurde zuerst publiziert in: Dagmar Filter und Gisela Kamke (Hg.), Momentaufnahmen. 20 Jahre Gemeinsame Kommission und Hochschulübergreifende Koordinationsstelle für Frauenstudien/Frauenforschung Hamburg, Hamburg 2005, S. 48 – 49.
Welch hohe Wertschätzung diese Pionierin von Frauenbildung und Frauenstudien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr, zeigt ein Auszug aus den NachGEDANKEN von Dagmar Filter, Jana Reich und Gisela Kamke, Zentrum GenderWissen, Universität Hamburg, vom 27. Juli 2009:
„(...) Seit Beginn ihrer universitären Karriere 1971 in Hamburg ebnete Wiltrud Schwärzel den Weg für Frauen und FrauenDenkräume in der Wissenschaft. Sie war die erste Dozentin der Universität Hamburg, die bereits Anfang der 1980er Jahre ihre Seminare als Frauenseminare auswies und Studentinnen in feministische Bildungsarbeit ‚einweihte‘; der Themenbereich „Individuationswege von Frauen“ war ein nicht mehr wegzudenkendes Seminarangebot und bei Studentinnen auch anderer Fächer sehr nachgefragt und sehr beliebt. Sie inspirierte ihre Studentinnen nachhaltig mit ihrem tiefen Wissen über feministische Psychologie und begleitete sie intensiv auf ihren Wegen zu zukünftigen Wissenschaftlerinnen und Berufspraktikerinnen.
In ihren Lehrveranstaltungen verband sie mit Leichtigkeit die ‚weibliche‘ Fühl- und Leibebene mit den 'Schwarzbrottexten' der Theoretikerinnen zu einem ganz neuen Lernen im Frauenkreis, auf den sie auch in ihren Seminarveranstaltungen immer viel Wert legte. Ihre ganz eigene Erkenntnisarbeit setzte sie in einer wahren Fülle von gestalttherapeutischen Elementen um und entfaltete aus ganzem Herzen auch die psychologische Psychotherapeutin in sich. Mit über 60 Lehrveranstaltungen stand sie bis zu ihrer Pensionierung 2002 an der Spitze frauenspezifischer Lehrveranstaltungen an Hamburger Hochschulen.
In den 1990er Jahren engagierte sie sich zusammen mit der Ko-Stelle und der Gemeinsamen Kommission für den Ausbau der ‚FRAUENSTUDIEN Hamburg – interdisziplinäre und wissenschaftliche Weiterbildung für Frauen an Hamburger Hochschulen‘, und leitete einen hochschulübergreifenden Arbeitskreis ‚Weiterbildung‘, der das erste Studienprojekt wissenschaftlich begleitete. In dieser Zeit vertrat sie auch die Universität in der hochschulübergreifenden Gemeinsamen Kommission Frauenstudien Frauenforschung.“
Text: Dr. Cornelia Göksu