Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Gisela Wiese

(29.5.1924 Berlin – 30.4.2010 Hamburg)
Bürgerrechtlerin, Leiterin eines Hamburger Kindergartens, engagierte sich für die Verfolgten des NS-Regimes und begleitete die Zeuginnen und Zeugen in den Hamburger Prozessen gegen KZ-Aufseher, gründete das Auschwitz-Komitee mit, 1990-2000 Vizepräsidentin der deutschen Sektion der internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi.
Wohlers Allee 40: katholisches Kindertagesheim (Wirkungsstätte)
Tierparkallee 30 (Wohnadresse)
Bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756


3969 Gisela Wiese
Gisela Wiese, Quelle: Brot & Rosen. Diakonische Basisgemeinschaft

Gisela Wiese wurde 1924 in Berlin geboren und wuchs dort bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Ihren leiblichen Vater kannte sie nicht. Kurz vor ihrer Geburt heiratete ihre Mutter einen anderen Mann, der jedoch bald verstarb.
Das Familienleben prägte der Protestantismus. Dazu gehörte auch die Pflege des kriegsinvaliden, querschnittsgelähmten Onkels, dem Sohn ihrer Großeltern. Dieser Onkel wurde von einem jüdischen Arzt betreut, und so hatte Gisela Wiese von Kindesbeinen an Kontakt zu Menschen jüdischer Herkunft.
Das Leben der Großeltern drehte sich ausschließlich um die Pflege des Sohnes. Die Großeltern stellten auf Grund der Kriegsverletzung ihres Sohnes Krieg und Vaterland in Frage. Die Reichstagswahl 1933, aus der die NSDAP als stärkste Fraktion hervorging, veränderte alles. Die Großeltern klärten ihre Enkelin bereits mit jungen neun Jahren politisch auf, um ihr zu zeigen, dass man als Christin in dieser Gesellschaft, die nun unchristlich und unmenschlich wurde, auf der richtigen Seite stehen musste.
Die Großmutter engagierte sich in kirchlichen Sozialeinrichtungen als Fürsorgerin, so lernte Gisela Wiese von früh an, wie elend es in so manchem Hinterhof aussah. Der Großvater war Richter. Er war nicht gewillt, dem nationalsozialistischen Richterbund beizutreten und wusste, dass damit seine Karriere beendet war. Er wurde frühpensioniert und fand Arbeit als Aufseher bei Karstadt. Er wirkte in einem Kreis von Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen mit, um verfolgten Menschen behilflich zu sein und die Bevölkerung durch Flugblätter aufzuklären.
Zur Oberschule hatten die Großeltern Gisela Wiese nicht geschickt, weil es dort fast Pflicht gewesen wäre, dem BDM beizutreten. Gisela beendete die Volksschule im Jahr 1938.
1940 begann sie eine Ausbildung zur Kindergärtnerin im evangelischen Bethanien-Seminar in Berlin. Bereits 1942 übernahm die NSV (Nationalsozialistisches Volkswohlfahrt) das Seminar und Gisela Wiese wechselte zum Pestalozzi-Fröbel-Haus, eine privat gebliebene Schule, in der viele christliche Lehrer Zuflucht gefunden hatten, die aber auch von Nationalsozialisten durchsetzt war. 1943 machte Gisela Wiese ihr Examen, anschließend wurde sie im Kindertagesheim Janowitzbrücke dienstverpflichtet. Das Heim war allerdings stark von der Ideologie der Nationalsozialisten geprägt. Daraufhin wechselte Gisela Wiese 1944 zur Berliner Stadtmission und erhielt dort Kontakt zu Widerstandskreisen.
Gegen Kriegsende lebte Gisela Wiese in Kellern, denn sie war während des Krieges mehrmals ausgebombt worden. Ihre Großeltern lebten nicht mehr. Die Großmutter war wenige Wochen nach der einjährigen Gefangenschaft ihres Mannes verstorben. Der Großvater war von der Gestapo abgeholt worden und Gisela Wiese hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Das Miterleben vom Auslöschen unzähliger Kinderleben ließ sie immer mehr an ihrem Glauben zweifeln. Außerdem wurde sie von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Gedemütigt hörte sie von einem evangelischen Pastor: In dir war auch Sünde, sonst wäre es nicht geschehen – das bedeutete den Bruch mit der evangelischen Kirche.
Nach Kriegsende konvertierte Gisela Wiese 1947 zum katholischen Glauben. Während der Messen konnte sie ihre seelischen Verletzungen vergessen, sie fühlte sich in eine Dimension hineingenommen, die eine Gegenwelt zur Welt draußen darstellte. Sie erfuhr den Katholizismus als eine Erweiterung des evangelischen Glaubens. In den nächsten Jahren arbeitete sie in verschiedenen Kindergärten. In Berlin begegneten ihr überall Menschen, die vor 1945 Verräter gewesen waren und jetzt als angesehene Bürgerinnen und Bürger galten. Das konnte sie nicht ertragen und zog 1954 nach Hamburg und arbeitete auch hier in Kinderheimen. Wegen einer Erkrankung am Kopf musste sie diese Tätigkeit 1958 beenden. Mit Hilfe von Beziehungen kam sie zu Frau Stolterfoht, die in der Maria-Louisen-Straße den Bücherladen Stolterfoth betrieb. Als der Laden 1963 an den Bertelsmann Club verkauft wurde, wechselte Gisela Wiese wieder in den Kindergarten, diesmal in das Kindertagesheim St. Theresien in Hamburg Altona. Hier arbeitete sie bis 1994.
1967 gründete sie anlässlich der beginnenden NS-Prozesse in Hamburg eine Pax-Christi-Gruppe mit vielen Jugendlichen, die sie über die Bücherstube Stolterfoth kennengelernt hatte. Pax Christi ist eine katholische Friedensbewegung, die versucht, sich mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ihre Mitglieder begleiteten die Zeuginnen und Zeugen aus Israel, Polen und anderen Ländern während der NS-Prozesse in Hamburg. Die Prozesse liefen wie Strafprozesse ab, die Richter, vielleicht auf Grund eigener Unkenntnis der NS-Historie, behandelten die Angeklagten oft mit größtem Verständnis und die Opfer wurden ein zweites Mal zu Opfern gemacht. Die Prozesse liefen bis 1974.
Seit 1974 war Gisela Wiese auch ehrenamtliche Helferin in den Hamburger Justizvollzugsanstalten und leitete Gesprächskreise und machte Gottesdienstgestaltung. Sie achtete darauf, dass die Themen der Gefangenen besprochen wurden und nicht von außen Bekehrungen stattfanden. Für Gisela Wiese stand an erster Stelle, dass die Gefangenen sich angenommen fühlten, denn Gisela Wiese hatte erfahren, dass Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, zu einer Einsicht gelangen konnten, wenn man sie respektierte.
Seit den 1970er Jahren arbeitete Gisela Wiese auch mit der VVN (Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes) zusammen. 1979 wurde sie Vorstandsmitglied der Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“; 1983 Mitbegründerin von „Pädagoginnen gegen Rüstungswahnsinn“; von 1983 Mitglied des Präsidiums von Pax Christi und seit 1984 im Leitungsteam von Pax-Christi-Osnabrück; seit 1990 arbeitete sie im Flüchtlingsrat Hamburg mit.
Wie wesentlich für sie die Auseinandersetzung mit Auschwitz war, beschrieb Elisabeth Wiese folgendermaßen: „Meine Kindheit war geprägt von Geborgenheit und Anerkennung. So wurde mir auch Gott vermittelt. (…) Eine große Entlastung glauben zu können: Was Gott tut, das ist wohlgetan. Aber schon im Kindesalter begannen Zweifel daran. Lag doch der geliebte Onkel, gelähmt durch eine Kriegsverletzung von 1918 zehn Jahre lang gelähmt im Bett.
Den Willen Gottes als Erklärungsmuster für alles Böse zu nehmen, für alles Leidvolle, bricht wohl immer dann, wenn unsere Liebe zu einem Menschen uns sensibel für sein Leid macht. (…)
Der Shoahgedenktag erinnert an die jüdischen Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden. Massenmord – vorbereitet und durchgeführt von Menschen, auch von Menschen mit christlicher Erziehung. Deshalb geht uns Christinnen und Christen dieser Tag besonders an.
Die verheißungsvolle Lehre vom liebenden Gott und von der Liebesfähigkeit der Menschen kam aus dem Judentum. Der Jesus, mit dessen Leben wir groß wurden, mit seinen Geschichten und Bildern, war ein jüdischer Rabbi, kam aus dem Volk, das restlos vernichtet werden sollte. Wie war das möglich? Woher kam und kommt das Gift des Antisemitismus?
Danach haben wir zu forschen, auch in unseren Kirchen, damit menschenfreundliche Lehre und solidarische Gemeinschaft den notwendigen Gegensatz bilden zu einer Gesellschaft, die spaltet, ausgrenzt und isoliert. (…) Die Entschuldigungen der Täter und Täterinnen, die Oberflächlichkeit der Erklärungen und Deutungen ersticken neue Menschlichkeit, machen Herzen und Köpfe stumpf. (…)
Der Bruch meines Glaubens, der Zweifel an Gott und die Menschen bereitete sich während des Krieges vor. Wenn Soldaten von den Greueltaten erzählten, wenn Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser verbrannten, geriet Vieles ins Wanken. Aber ich erlebte den kleinen Widerstand, das Gefühl, Richtiges zu tun, auf der richtigen Seite zu stehen. Und ich ließ noch nicht zu, daß die Verzweiflung an dem, was Menschen einander antaten – Verrat, Verfolgung und Mord – mein Vertrauen an Gott erschütterte.
Dann erfuhr ich von Auschwitz. Alles wurde anders. Wie weiterleben und glauben? Wo war Gottes Allmacht, als seine Geschöpfe gequält und ermordet wurden?
Ich war damals eine junge Kindergärtnerin, verliebt in die Anmut, in die Zärtlichkeit der mir anvertrauten Kinder. Wie konnte die Unmenschlichkeit, ohne vor Kindern einzuhalten, so mörderisch werden? Da half keine Glaubensbeschwörung: Was Gott tut, das ist wohlgetan? Dann begegneten mir Menschen, die durch die Hölle der Lager gegangen waren. Äußerlich waren sie befreit worden, aber die Spuren des Erlittenen verloren sie nie. Sie standen vor den deutschen Gerichten ihren Peinigern gegenüber, schilderten das Geschehene und vertieften meinen Zweifel an den gütigen Gott, an die Menschheit.
Am Rande der Prozesse, an den Abenden gaben sie mir Hoffnung. In der Beziehungslosigkeit des Lageralltags waren es kleine Gesten der Mitmenschlichkeit gewesen, leise Worte des Mitmachens, die sie durchhalten ließen. Ihr Gott war der Mitleidende, der sich auf seine Menschen verließ, der ihnen das Leben seiner Welt anvertraute.
Wir haben heute Zeugnisse von denen, die litten, heute noch leiden. Elie Wiesel, sagt zu uns: ‚Wie steht es um den Glauben an den Menschen? Wie steht es um die Hoffnung für den Menschen? Ich bin der Überzeugung, daß wir von den Opfern lernen sollten, den Männern und Frauen, die weiter und tiefer blickten als irgendein anderer Mensch.
Wenn wir heute wieder ein kleines Maß an Hoffnung erlangen sollten, dann dank der Opfer. Nach Auschwitz ist selbst die Hoffnung voller Qual. Nach Auschwitz ist Hoffnung notwendig. Ich glaube, man kann sie allein im Erinnern finden.
Wir müssen diese Verbrechen, auch um unserer Kinder willen im Gedächtnis behalten. Diese jungen Menschen haben ein Anrecht auf ein Wort von uns, eine Geste, auf ein Angebot an Hoffnung.‘
Mehr ist nicht zu sagen. Unser Leben, unsere Gesellschaft, unsere Kirchen sind daran zu messen, wie wir unsere Hoffnung heute zu einer Hoffnung machen für alle, die hoffnungslos leben. Lassen wir uns darauf ein, wird unser Glaube klarer, unsere Liebe befreiter und unsere Hoffnung wird uns befähigen zu glauben, daß unsere Toten und wir Lebenden geborgen sind in der unbegreiflichen Liebe Gottes.“[1]
Text: Monika Redeker und Rita Bake