Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Gertrud Bing

(7.6.1892 Hamburg – 3.7.1964 London)
Bibliothekarin und stellvertretende Direktorin in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Leiterin des Warburg Institutes in London
Heilwigstraße 114 (Wirkungsstätte)
Rehagen 9 (Wohnadresse)


In ihrem Lebenslauf, den Gertrud Bing ihrer Dissertation „Der Begriff des Notwendigen bei Lessing: Ein Beitrag zum geistesgeschichtlichen Problem Leibniz – Lessing“ beifügte, schrieb sie über ihre Herkunft und Ausbildung[1]: „Ich, Gertrud Bing, wurde am 7. Juni 1892 als Tochter des verstorbenen Kaufmanns, Moritz Bing und seiner ebenfalls verstorbenen Frau Emma Bing, geb. Jonas, zu Hamburg geboren. Ich besuchte dort eine höhere Mädchenschule, dann ein Privatseminar und schließlich das Oberlyzeum (Lehrerinnenseminar) der Unterrichtsanstalten des Kloster St. Johannis, Hamburg, wo ich erst Ostern 1912 die wissenschaftliche Abschlussprüfung und ein Jahr später die Lehramtsprüfung für höhere Mädchenschulen bestand. Ich unterrichtete 1 ½ Jahre lang an einer Privatschule, bereitete mich dann durch Privatunterricht auf das Abiturientenexamen vor und bestand dies Ostern 1916 am Heinrich-Hertz-Gymnasium, Hamburg. Von 1916 bis 1918 studierte ich in München Philosophie, Literaturgeschichte und Psychologie, ließ mich dann für ein Jahr beurlauben, weil ich eine Kriegsvertretung an der Knaben-Oberrealschule Eimsbüttel, Hamburg, übernahm und studierte nach Errichtung der Hamburgischen Universität dort dieselben Fächer wie in München.“[2]
Ihre Promotion wurde 1921 von dem renommierten Philosophen Ernst Cassirer angenommen. Biografinnen Gertrud Bings schrieben über die Dissertation: „NATHAN DER WEISE verkörperte ein Programm, mit dem sich für Gertrud Bing, für Aby Warburg und viele andere nicht nur Hoffnungen auf eine tragfähige Ethik ohne unmittelbare religiöse Bindung, sondern auch auf ein tolerantes und gleichberechtigtes Zusammenleben deutscher Juden mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern verbanden.“[3]
1922 wurde Gertrud Bing auf Empfehlung Ernst Cassirers als Bibliothekarin an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in der Hamburger Heilwigstraße 114 angestellt. Ihr Gründer war der aus vermögender Bankiersfamilie stammende Privatgelehrte Aby Warburg (1866–1929), der sich als anerkannter Kunsthistoriker vor allem für das Nachleben der Antike in der Renaissance interessierte. 1926 wurde für die Bibliothek auf dem Nachbargelände Heilwigstraße 116 ein Neubau mit einem vierstöckigen Bücherturm errichtet. Die Privatbibliothek wurde als öffentliches Forschungsinstitut in die Universität Hamburg eingegliedert.
Die Bibliothek wurde bei Gertrud Bings Arbeitsbeginn kommissarisch von Fritz Saxl geleitet, da sich Aby Warburg in stationärer Behandlung befand. Fritz Saxl und Gertrud Bing wurden später ein Paar, heirateten aber nicht. Nach Aby Warburgs Rückkehr und Übernahme der Leitung 1924 wurde sie seine Assistentin, ab 1927 seine Stellvertreterin.
Gertrud Bing ordnete die Bibliothek nach dem Umzug in den Neubau neu, betreute die NutzerInnen und BesucherInnen und war verantwortlich für die Publikationen und Veranstaltungen.
In den Jahren 1927 und 1929 begleitete Gertrud Bing Aby Warburg über viele Monate auf wissenschaftlichen Reisen nach Florenz und Rom. Die Reisen sind sehr gut dokumentiert in den inzwischen veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen der Warburg-Bibliothek: „Man nimmt in diesem Austausch auch die wachsende Sicherheit Bings war [sie hatte schließlich andere Fächer als Kunstgeschichte studiert]. Immer wieder ist in den Tagebuchaufzeichnungen der beiden Reisegenossen eine Art Euphorie über die vertraute und enge Zusammenarbeit spürbar.“[4] Aby Warburg schätzte seine Stellvertreterin sehr. In seinen Einträgen der Tagebuchaufzeichnungen stieg sie von „Fräulein Dr. Bing“, zu „Bing“, zur „Bingia“, zum Bingius“ und schließlich zum „Collegen Bing“ auf. Die Ansprache als männlichen Kollegen ist hier „vielleicht als Ausdruck seiner höchsten Wertschätzung“ zu verstehen“.[5] Nach Aby Warburgs Tod 1929 blieb Gertrud Bing stellvertretende Direktorin der Bibliothek – neuer Leiter war jetzt wieder Fritz Saxl. 1932 gab Gertud Bing die Gesammelten Schriften Aby Warburgs heraus.
1933 wurde die „jüdische“ Warburg-Bibliothek von der Hamburger Universität abgetrennt. Gertrud Bing, Fritz Saxl, den Bankiers Max Warburg (Bruder Abys) und Eric Warburg (Neffe) gelang es mit Unterstützung von englischen und amerikanischen Freunden, die 60.000 Bücher umfassende Sammlung als „Leihgabe“ nach London zu verbringen. Die Bibliothek zog mehrfach innerhalb Londons um und wurde im Krieg nach Denham ausgelagert. 1944 wurde die Bibliothek der Londoner Universität als Warburg Institute angeschlossen. Leiter war Fritz Saxl, Gertrud Bing stellvertretende Direktorin.
In London setzte sich Gertrud Bing vor allem für aus Deutschland und Österreich geflüchtete Geisteswissenschaftler ein und versuchte gemeinsam mit Emigranten-Hilfsorganisationen finanzielle Hilfen und Arbeitsstellen zu vermitteln. „Die schweren Jahre, die nun folgten, erwiesen die volle Charakterstärke von Gertrud Bing. Selbst heimatlos geworden, sorgte sie klaglos für andere. …Aber wertvoller noch als alle tätige Hilfen [für die exilierten deutschsprachigen Wissenschaftler] war die menschliche Wärme und seelische Kraft, die sie ausstrahlte, ihr unerschütterlicher Glaube, daß auch in einer wahnsinnigen Welt die Weiterführung der Forschungsarbeit und die Bewahrung des geistigen Erbes mehr bedeuten, als die Sorgen des Alltags, wie dringend sie auch immer wurden.“[6]
Nach Kriegsbeginn arbeitete sie als Ambulanzfahrerin im Rettungsdienst, bis ihr das als „enemy alien“ verboten wurde.
1948 verstarb Fritz Saxl und Gertrud Bing gab die von ihm hinterlassenen Vorträge heraus. Nachfolger als Leiter der Bibliothek und des Instituts wurde Henri Frankfort, ein niederländischer Archäologe, Altorientalist und Ägyptologe. Nach seinem Tod im Jahr 1954 übernahm Gertrud Bing die Leitung des Warburg Institutes in London. Zudem wurde sie zur gleichen Zeit zum „Professor of he History oft he Classical Tradition“ an der Londoner Universität ernannt.
1958 kam Gertrud Bing ein einziges und letztes Mal nach Hamburg zurück. Aby Warburgs in der NS-Zeit entfernte Büste wurde in der Hamburger Kunsthalle wieder aufgestellt und sie hielt die Festrede. Sie war anfangs skeptisch, nach Deutschland zurückzukehren und schrieb der sie einladenden Direktion der Kunsthalle: „Ich bin auch davon überzeugt, dass Sie … sich freuen würden, wenn ich mit dabei wäre. Aber Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich nicht weiß, ob sich noch jemand anders sich darüber freuen würde. … die Aufstellung der Büste von Warburg scheint innerhalb der Neuordnung [einiger Ausstellungssäle] nur eine sehr kleine Einzelheit – und gerade diese zum Mittelpunkt der Feier zu machen, riecht mir doch zu stark nach ‚Wiedergutmachung‘. … Warburg selbst hat einmal bei Anlaß der kirchlichen Hochzeitsfeier von guten Freunden gesagt: ‚Es ist besser, daß sie sich wundern sollen, daß wir nicht dabei sind, als daß sie sich darüber wundern, daß wir dabei sind.‘ Ist nicht etwas von dieser Haltung auch hier am Platz?“[7] Gertrud Bing bestand auf offizielle Einladung.
Diese folgte durch den hamburgischen Senator Biermann-Ratjen, die Gertrud Bing annahm, auch wenn der Brief und Biermann-Ratjens spätere Einleitung des Festaktes die Hoffnung auf ihre Vergebung enthielt: „Eine Zusage würde ich umso mehr begrüßen, als sie einem versöhnenden Händedruck gleichkommen würde, der unter viel Unrecht der Vergangenheit einen Schlußstrich ziehen könnte.“[8]
Ihre Festaktrede handelte ausschließlich von Aby Warburg und die einzige auf sich selbst zielende Bemerkung darin wies den Schlussstrich-Gedanken zurück: „Und obwohl er [Aby Warburg] sich mit Deutschland so rückhaltlos identifizierte, wie es uns, der nächsten Generation, schon vor Hitler nicht mehr möglich wäre, trotzdem ist er die Furcht vor Antisemitismus nie ganz los geworden.“[9] Gertrud Bing blieb unversöhnt mit Deutschlands NS-Vergangenheit.
1959 wurde Gertrud Bing pensioniert und erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Reading. Gertrud Bing verstarb am 03.07.1964 nach kurzer Krankheit in London. Ihre begonnene Biographie Aby Warburgs blieb unvollendet.
Ihr Nachfolger als Institutsleiter, Werner Gramberg, schrieb anlässlich ihre Todes: „Gertrud Bing war gütig und voll tiefen Verständnisses für ihre Mitlebenden – ein Mensch, der wohl auch viel Leid erlebt und gesehen hat. Sie besass ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsbewusstsein – ein Mensch, der das Gesetz der grossen „ordo“ erkannt hat. Sie war weise – ein „Mensch“, dem die Erfahrung und das Wissen uralter Geschlechterfolgen im Blute war.“[10]
Gertrud Bings eigene wissenschaftliche Veröffentlichungen sind rar. Sie stellte ihre Kraft und ihr Wissen vor allem in die Unterstützung anderer männlicher Wissenschaftler: „She entered with extraordinary sympathy and understanding into the research of others, always giving alert attention to papers of the [Warburg] Journal and manuscripts of books. From her store of knowledge and experience there would emerge a firm grip of essential points, even in fields in which she was not an expert, and a gift for drawing out and clarifying a writer’s ideas. An ever increasing numbers of colleagues in all fields turned to her as a matter of course as the ideal reader of their drafts. These activities absorbed her time and energy and hence there are but few publications under her own name. The services which she rendered to others through her constructive criticism are impossible to measure.”[11]
Text: Dr. Ingo Böhle