Ruth Kantorowicz Dr. Ruth Renate Friederike Kantorowicz
(7.1.1901 in Hamburg - 9.8.1942 Ausschwitz)
Volkswirtin, NS-Opfer
Eimsbütteler Chaussee 63 (Wohnadresse, Stolperstein)
Knapp 34 Jahre wohnte Ruth Kantorowicz in der Eimsbütteler Chaussee. Geboren wurde sie im Haus Nr. 27. 1916 zog ihre Familie in das Haus Nr. 63 und 1932 weiter ins Haus Nr. 124. Haus Nr. 63 war 1910 als erstes festes Kino in Hamburg gebaut worden und stadtbekannt. Die Arztpraxis des Vaters lag mit der Wohnung im 1. Stock über dem Kinosaal. Die Oberschülerin Ruth erlebte also intensiv die Filmkunst in ihrer Pionierzeit. Das Kinogebäude steht heute noch, während Nr. 27 und Nr. 124 den Bomben zum Opfer fielen.
Zur modernen Welt des Films passten Ruths Schwerpunkte in der Schule. Ihre Leistungen in Biologie, Physik, Chemie und Singen bewerteten ihre Lehrer mit sehr gut. Unter dem Reifezeugnis vom 3. Februar 1921 ist handschriftlich vermerkt: „Frl. Kantorowicz hat einen Abdruck der Reichsverfassung erhalten“. Diese galt seit gerade anderthalb Jahren und legte erstmals fest: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“ (Art. 109). Dementsprechend stand im Zeugnis hinter „Religionslehre“ nur ein zarter Strich als einziger Hinweis darauf, dass die Schülerin einer Minderheit angehörte.
Eimsbüttel war damals Neubaugebiet und viele Einwohner kamen von außerhalb. So stammte Ruths Vater, der promovierte praktische Arzt und Geburtshelfer Simon Kantorowicz, aus Posen, einer überwiegend polnisch geprägten preußischen Großstadt. 1894 hatte er den Hamburger Bürgereid abgelegt. Junge Ärzte waren an der Elbe wegen der gerade überstandenen Choleraepidemie sehr willkommen. Ruths Mutter, Hulda Friedheim, war Hamburgerin und Tochter Ruth blieb ihr einziges Kind.
Eine Episode der frühen Kindheit verdient, etwas ausführlicher behandelt zu werden: Als Ruth vier Jahre alt war, begegnete sie zum ersten Mal der Breslauerin Edith Stein, die später Vorbild und Stütze für sie werden sollte, und die die Katholiken seit 1998 als heilige Märtyrerin verehren. Edith Stein war neun Jahre älter als Ruth und hatte als 14-Jährige ein Jahr am Eimsbütteler Park (Ottersbekallee 6) bei ihrer verheirateten Schwester (Else Gordon) gelebt, deren Ehemann Kollege von Vater Kantorowicz war. Edith wurde Philosophin und erste Assistentin des einflussreichen Denkers Edmund Husserl (Phänomenologe), der sie promovierte. 1922 ließ sie sich nach Jahren der Glaubensferne taufen. Der Versuch der Wissenschaftlerin, sich zu habilitieren, scheiterte in Göttingen, Freiburg und Breslau – wahrscheinlich, weil sie eine Frau und jüdischer Abstammung war. Sie hinterließ ein viel beachtetes, umfangreiches Werk, zu dem Ruth Kantorowicz von 1935 an in bescheidener Weise beitragen konnte.
Im zweiten Jahr des Bestehens der Hamburger Universität schrieb Ruth sich dort in zwei Fakultäten ein: Rechts- und Staatswissenschaften sowie Mathematik und Naturwissenschaften. Ihr Mentor wurde der erste Ordinarius für Theoretische Nationalökonomie in Deutschland, der wirtschaftsliberale Heinrich von Gottl-Ottilienfeld, dem sie später nach Kiel und Berlin folgte. Es gehörte viel Mut dazu, sich in diese Männerdomäne vorzuwagen. Während der Hamburger Zeit widmete sie sich ungewöhnlich gründlich der Praxis: 1922 arbeitete sie während der Semesterferien im Finanzamt Unterelbe; danach erlebte sie in der Deutschen Bank zwölf Monate lang die Hyperinflation von 1923 und deren Überwindung. Mitte 1930 wurde sie folgerichtig in Berlin mit dem Thema „Die Wirklichkeitsnähe nationalökonomischer Theorie“ mit der Bewertung magna cum laude promoviert. Noch als Doktorandin begann Ruth ein Volontariat in der Handelsredaktion des Kasseler Tageblattes. Kaum verständlich ist, dass die hochqualifizierte Frau bereits nach vier Monaten als Sekretärin zur Pädagogischen Akademie Cottbus wechselte, und, als diese schließen musste, noch kurz in einer entsprechenden Stelle in Frankfurt am Main für knapp 200 Reichsmark (RM) im Monat arbeitete. Von 1930 bis 1932 drückte die Weltwirtschaftskrise das Land. In Hamburg wurde jeder zweite Mann arbeitslos und die Stadt fast zahlungsunfähig. Ein Blick in die Kultussteuerkartei der Jüdischen Gemeinde in Hamburg ergibt, dass die Eltern nur noch wenig Geld zur Verfügung hatten. 1930 wurde der früher gut verdienende Vater dort wie die Tochter mit lediglich 15 RM veranlagt. Zum teuren, auswärtigen Promotionsstudium konnte der Vater also nichts beitragen.
Dies war der Anfang einer Kette schrecklicher Schicksalsschläge: Im April 1932 erlöste der Tod die Mutter „von qualvollem Leiden“. Tochter und Vater verließen Arztpraxis und Wohnung und zogen in eine billigere Bleibe. Im Oktober desselben Jahres musste sich die Volkswirtin mit einem Ausbildungsplatz bei den Hamburger Öffentlichen Bücherhallen für den „Dienst in volkstümlichen Büchereien“ zufrieden geben, aus dem sie 1933 allerdings wieder entlassen wurde, weil sie Jüdin war. Ruth kam in einer Bleistiftfabrik (Schüler & Co.) als Kontoristin unter. Von ihrem geringen Einkommen musste sie auch den inzwischen mittellosen Vater unterhalten. Als sie auch diese Stelle nach sechs Monaten verlor, blieben ihr nicht mehr als rund 100 RM im Monat.
Der Vater starb im September 1934 im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde (Eckernförderstraße 4). Zehn Tage vorher – am 8. September 1934 – hatte Ruth sich taufen lassen. Das Sakrament spendete Pater Karl Joppen in der katholischen Kirche St. Elisabeth in Harvestehude. Der Pater gehörte zur Hamburger Niederlassung der Jesuiten, die sich „mit großer Wachsamkeit, Klugheit, List, Umsicht und Fürsorge“ für die verfolgten Juden am Grindel einsetzten.
Eine Frage drängt sich auf: Hat etwa Gram über die Taufe den Tod des Vaters verursacht? Edith Stein gibt die Antwort in ihrem Kondolenzbrief vom 4. Oktober 1934: „Daß für Ihren lieben Vater Ihr Übertritt eine Freude war, das ist eine besondere Gnade für Sie und für ihn.“ Dieser Brief stellte nach Jahrzehnten den unmittelbaren Kontakt wieder her. Es hieß dort aber: „Durch meine Schwester … bin ich über Ihren äußeren Werdegang immer wieder unterrichtet worden und Sie wohl auch über den meinen.“ Insgesamt 49 Briefe bezeugen, dass die Verbindung intensiv war und bis zum gemeinsamen Tod bestehen blieb.
Die getaufte Philosophin Edith Stein war nach langer Vorbereitung im Oktober 1933 Karmelitin in Köln geworden. In dem kontemplativen Klausurorden trug die Ordensfrau von diesem Zeitpunkt an den Namen Teresia Benedicta a Cruce. Ruth wollte ihr auf diesem Weg folgen und verbrachte 1934 das Weihnachtsfest in Köln. Im Sommer 1935 zog sie ganz dorthin (Classen-Kappelmann-Straße 14). Nachdem der Kölner Karmel die Aufnahme abgelehnt hatte, gelang es Schwester Benedicta ein Jahr später, Ruth als Postulantin an den Karmel in Echt bei Maastricht in den Niederlanden zu vermitteln. Sie machte sich große Sorgen um ihren deprimierten und kränkelnden Schützling und schrieb: „Wir müssen jetzt aber weiter beten, dass die Kräfte ausreichen“. Als sich die holländischen Schwestern nach einem Jahr ebenfalls gegen das dem Postulat folgende Noviziat entschieden, schrieb Schwester Benedicta einer Vertrauten: „Wie rat- und hilflos das arme Geschöpf jetzt da drüben sein mag …“. Ruths Beichtvater, der Steyler Pater Heinrich Hopster, berichtete nach dem Kriege: „… mußte sie das Kloster verlassen, weil sie körperlich viel zu schwach war“. Er schrieb auch: „… ich habe selten einen Menschen gesehen, der soviel Angst gehabt hat.“ Hinzu kam später Rheumatismus. Ruth schrieb an Schwester Benedicta: „Die Nächte sind fatal, da ich beim Liegen sehr viel Beschwerden habe.“
Schließlich gelang es der Ordensfrau, Ruth als „Mädchen für alles“ im Ursulinenkloster (Schulorden) im holländischen Venlo unterzubringen, und 1938 gelangte Schwester Benedicta sogar in Ruths Nähe, als die Karmelitin nach dem Novemberpogrom in Deutschland in den Karmel von Echt floh. Für beide begannen nun vier Jahre fruchtbarer Zusammenarbeit, ohne die das 26-bändige Werk der Philosophin später kaum hätte publiziert werden können. Ruth übertrug in dieser Zeit tausende schwer lesbare Manuskriptseiten der Heiligen mit der Schreibmaschine.
Das Ende nahte, als der Erzbischof von Utrecht, Jan de Jong, in enger Abstimmung mit den evangelischen Kirchen der Niederlande, am Sonntag, dem 26. Juli 1942, einen Hirtenbrief gegen die Drangsalierung und Deportation der Juden von allen katholischen Kanzeln verlesen ließ. Die Gestapo hatte früh von dem Vorhaben erfahren und dem Erzbischof gedroht, der sich aber nicht beirren ließ. Bereits am folgenden Montag (27.7.42) hatte der „Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD für die besetzten Niederlande“ die folgende Weisung erteilt:
„Da die katholischen Bischöfe sich – ohne beteiligt zu sein – in die Angelegenheit gemischt haben, werden nunmehr die sämtlichen katholischen Juden noch in dieser Woche abgeschoben … Generalkommissar Schmidt wird am Sonntag, den 2.8.42, in einer Parteiveranstaltung in Limburg die öffentliche Antwort an die Bischöfe geben.“ Die „Deutsche Zeitung in den Niederlanden“ berichtete am 3. August 1942: „… Hauptdienstleiter Schmidt sprach … Wenn sich aber die katholische Geistlichkeit so über Verhandlungen hinwegsetzt, dann sind wir unsererseits gezwungen, die katholischen Volljuden als unsere ärgsten Gegner zu betrachten und für ihre schnellste Abführung nach dem Osten zu sorgen. Das ist geschehen.“
Tatsächlich waren am Sonntag alle Katholiken jüdischer Abstammung festgenommen worden, derer SS und GeStaPo habhaft werden konnten, 244 insgesamt. Sie starben eine Woche danach, am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau.
Text: Dietrich Rauchenberger, aus www.stolpersteine-hamburg.de