Lotte Schwarz Lotte Schwarz, geb. Benett, gesch. Spengler
(4.10.1910 Schwarzenbek/Swattenbeck/Schleswig-Holstein - 6.10.1971 Zürich/Schweiz)
Bibliothekarin, Politische Aktivistin, Frauenrechtlerin; Kämpferin für das Wahlrecht der Frauen in der Schweiz
Borsteler Chaussee 43 – (Wohnanschrift ab 1911 mit Familie in der vormaligen Gärtnerei Crantz)
Kuhnsweg 12 (Familien-Anschrift ab ca. 1928)
Goernestraße 21 (ab 1.6.1927 war dort die siebte Bücherhalle in der 1. Etage der Badeanstalt untergebracht)
Geboren ist Lotte Benett als eines von drei Kindern am 4. Oktober 1910 in Schwarzenbek/Swattenbeck, Kreis Herzogtum Lauenburg, ca 40 km östlich von Hamburg (zählte um 1900 1.200 und 1938 2200 Einwohnende). Um 1911 zog die Familie mit Lotte und dem älteren Bruder Walter in das damalige noch vor den Toren der Großstadt Hamburg liegende Dorf Groß Borstel, das erst 1913 nach Hamburg eingemeindet wurde. Denn auch in Schwarzenbek galten im ausgehenden 19. Jahrhundert organisierte Sozialdemokraten als Reichsfeinde und „vaterlandslose Gesellen“. Sie „erlebte eine proletarische Kindheit, wie man sie höchstens noch aus der Literatur kennt“. Ihr Vater Wilhelm hatte es vom Arbeitersohn zum Schriftsetzer gebracht und mithilfe der Guttempler (internationale Bewegung für Abstinenz, Freiheit & Brüderlichkeit C.G.) – auf Betreiben der Mutter – seine Alkoholprobleme überwunden; als Sozialdemokrat war er 1918 an der Novemberrevolution beteiligt, den Demonstrationen gegen die Monarchie. Die Mutter Johanna, geb. Wilke, stammte aus Treptow/ehemals Hinterpommern (Uhlig: 16) und versuchte mit Weißnähen den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. In Groß Borstel wurde der jüngere Bruder Hans geboren. Sobald möglich, trugen die Kinder mit regelmäßigen Verdiensten zum Familieneinkommen bei. Trotz aller Plackerei aber reichte es nur knapp dafür, dass die beiden Söhne eine Lehre machen konnten. Als Ausbildung der einzigen Tochter musste die obligatorische Schulzeit von 1917-1925 genügen. Trotz ihres sehr guten Volksschulabschlusses erlaubte ihr der Vater keine weitere Ausbildung, schließlich würde sie ja sowieso heiraten: Lotte musste als Dienstmädchen arbeiten, auf der anderen Seite der Borsteler Chaussee, „wo die Reichen wohnten“, dann in Harvestehude. „Dank des 1919 erlassenen ‚Gesetztes zur Fortbildungsschulpflicht’ konnte sie jedoch die Berufsschule besuchen. Ein dort gehaltener Vortrag der Frauenrechtlerin Helene Lange (vgl. Kurzbio in dieser Datenbank) über die Geschichte der Frauenbewegung wurde für Lotte Benett zum politischen Erweckungserlebnis. Zu ihrem Glück konnte sie in der vor kurzem eröffneten 7. Hamburger Bücherhalle in Eppendorf anfangen. Nun arbeitete sie halbtags bei einem Logenbruder ihres Vaters im Zigarrengeschäft und die andere Hälfte in der Bibliothek. Von 1927 bis 1934 war sie dort Kollegin von Lotte Schaedel, die zur lebenslangen Freundin wurde. Lottes Chefin war die Bibliothekarin Lilli Volbehr. Die Arbeit und der Umgang mit Büchern wurden für sie zur lebensbestimmenden Aufgabe“ (vgl. Weinke 2013: 129).
Weiterbildungsmöglichkeiten eröffneten in der Zeit der Weimarer Republik Menschen aus dem proletarischen Milieu nur linke Organisationen. Am 1. Mai 1930 trat Lotte Benett der KPD bei und engagierte sich innerhalb der „Kommunistischen Jugend KJVD: „Diskussionen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft, über Sexualität und Moral, nicht zuletzt der autoritäre Führungsstil der KPD führten jedoch zu einer Entfremdung von der Partei. Sie schloss sich der rätekommunistischen Gruppe ‚Rote Kämpfer’ an“ (Weinke 2013: 129; ausführlich bei Uhlig), einer Gruppe oppositioneller Sozialisten, die von der Politik der beiden großen Arbeiterparteien enttäuscht waren. Wiederholte Flügelkämpfe zwischen diesen verschiedenen Gruppierungen verhinderten ein antifaschistisches Bündnis. So setzte mit der Machtübernahme nach 1933 auch die massive Verfolgung des KJVD wie der streng konspirativen „Roten Kämpfer“ ein. Zahlreiche Mitglieder wurden in sogenannte Schutzhaft genommen. Einer Internierung in Haftanstalt und KZ Fuhlsbüttel konnte sich Lotte Benett durch die Emigration am 1. Juli 1934 nach Zürich entziehen. Am 21. 11. 1934 ging sie im Exil eine politische Heirat mit Hans Spengler ein, die 1937 geschieden wurde (vgl. Uhlig: 102 ff.). Lotte Spengler war nun von einer Abschiebung nach Deutschland befreit und erhielt mit der Schweizer Staatsbürgerschaft auch eine Arbeitserlaubnis. Mit ihren 24 Jahren war ihr dies als junger, lediger Frau in der Schweiz möglich; Männern wurde durch Eheschließung mit einer Schweizer Staatsbürgerin ein solcher Weg nicht eröffnet.
Und wie zuvor in Hamburg, so gab es auch in Zürich hilfreiche linke Persönlichkeiten: Lotte arbeitete erneut als Dienstmädchen, dann als Aushilfsverkäuferin in einem Kaufhaus; später im Sekretariat der „Genossenschaft Büchergilde Gutenberg Zürich“, die – 1933 mit der „Gleichschaltung“ in Leipzig erloschen –in der Schweiz neu gegründet worden war. Die handwerkliche und künstlerische Tradition dieser aus der Arbeiterbewegung entstandenen Buchgemeinschaft war ihr bereits von zu Hause vertraut. Ein Foto zeigt sie um 1926 mit ihren Eltern in der sparsam eingerichteten Wohnstube vor einem repräsentativ gefüllten Bücherschrank (Uhlig: 45). Ab Oktober 1938 bekam sie eine Anstellung im Sekretariat und arbeitete später als Bibliothekarin und Leiterin des „Schweizerischen Sozialarchivs“ in Zürich: „Das Schweizerische Sozialarchiv wurde 1906 vom Verein ‚Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz’ gegründet. Zweck der Zentralstelle sollte es sein, die ‚soziale Frage’ zu dokumentieren und ‚diese Sammlung allen Interessenten unentgeltlich zugänglich zu machen’. Die Initiative dazu kam von Paul Pflüger, Sozialreformer und Pfarrer im Arbeiterquartier Zürich-Aussersihl. Angeregt durch einen Besuch im Musée Social in Paris anlässlich der Weltausstellung im Jahre 1900 entwickelte Paul Pflüger eine rege Sammeltätigkeit zur Dokumentation der sozialen Frage. Von Beginn an war der Verein überparteilich zusammengesetzt. Alle wichtigen politischen und konfessionellen Richtungen waren vertreten, um die wissenschaftlich objektive Arbeit der neugeschaffenen Institution sicherzustellen" (sozialarchiv.ch/sozialarchiv/ueber-uns/geschichte/).
Da Lotte Schwarz umfassend über ihr Leben reflektiert, ihre Erfahrungen und Gedanken in Zeitungsartikeln, Vorträgen und einem Buch veröffentlicht hatte („Tagebuch mit einem Haus“, Zürich 1956), ihr Nachlass aber auch noch unpublizierte Manuskripte barg, gelang es ihrer Biografin Christiane Uhlig, auf einfühlsame Weise das Leben ihrer Protagonistin zu rekonstruieren. Ihre Hamburger Zeit schilderte sie in den Manuskripten „Wir waren siebzehn“ und „Der Katzenkopf“. Aus dem unveröffentlichten Roman „Die Brille des Nissim Nachtgeist“ erschloss die promovierte Historikerin Christiane Uhlig das keineswegs rosige Emigrantenleben, welches Lotte Schwarz in der Schweiz mitgestaltete: „Zum Beispiel, dass neben besagter Pension Comi auch die sogenannte ‚Hölzliburg’, geführt von Gustava Reichstein, ein wichtiger Treffpunkt war“. Dort wohnten prominente Exilantinnen und Exilanten wie Robert Jungk, Peter Weiss, Hans Josephsohn, Trudi Gerster, Albert Ehrenstein und Fritz Hochwälder (vgl. Rea Brändle 2012). Robert Jungk charakterisierte Lotte Schwarz „als menschlichen Mittelpunkt des lockeren Kreises der zerstrittenen Linken (Weinke 2013: 129; er zitiert aus Robert Jungk „Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft, München 1993). Und Robert Jungk erinnerte sich: „Durch Heirat Schweizer Staatsbürgerin geworden, fand diese junge, leidenschaftlich engagierte Frau für alle (...) Rat und Hilfe. Schon die Tatsache, dass da eine ‚Autorität’ freundlich mit uns umging, war wohltuend“ (a.a.O.).
In dem von Lotte Schwarz verfassten Beitrag „Revolutionäre in der Bibliothek“ zählte sie weitere bekannte Frauen auf wie etwa Lida Gustava Heymann oder Anna Siemsen, deren Buch „Der Weg ins Freie“ sie 1944 in der „Weltwoche“ lobend rezensierte. „Obwohl die Lesesaalbesucher, sofern es sich um Emigranten handelte, das gleiche Schicksal hierher gebracht hatte, bildeten sich dennoch keine Gesinnungemeinschaften (...)“. Nicht nur geistige Verpflegung konnte in den beheizbaren Hallen einer ehemaligen Kirche am Predigerplatz ausgetauscht und (heimlich) eingenommen werden (Zitate vgl. Uhlig: 147 ff. sowie 290).
1936 traute sich Lotte Schwarz noch einmal nach Hamburg: Vier „junge Rote Kämpfer“, darunter auch Lottes Bruder Hans, waren im Konzentrationslager Fuhlsbüttel inhaftiert worden. So suchte sie Unterstützer und fand den deutschen Journalisten und Sozialdemokraten Walter Gyssling (leitete bis 1933 Büro zur Abwehr des Antisemitismus des jüdischen Centralvereins, Berlin). Die Büchergilde Gutenberg sammelte Geld für den Hauptangeklagten. Auf ihrer gefährlichen Reise nach Hamburg blieb sie dank ihrer Beziehungen unbehelligt und konnte noch weiteren Verfolgten zur Flucht verhelfen. Nach einem Jahr wurde Lottes Bruder Hans plötzlich entlassen, auch wurde kein Prozess gegen ihn geführt. Nur zwei der insgesamt 12 Hamburger Mitglieder mussten sich im Mai 1938 dem Prozess stellen. Lotte selbst konnte als Schweizer Staatsbürgerin nicht festgenommen werden. Sie galt offiziell als für die Prozessführung nicht wichtig genug. Später schrieb sie: „Das gefundene ‚Propagandamaterial’ verriet keinerlei ‚Hochspielen’, wie man es heute sagen würde, doch müssen die Richter des Dritten Reiches die Macht einer Moral gespürt haben, die ihnen fremd – und darum verdächtig war. Ihr Erstaunen, wie ‚Männer aus gutem Hause’ und mit solider Bildung sich einer so ‚aussichtslosen Sache’ verschreiben konnten, war gross“ (Zitat aus Uhlig: 138).
Jahre später heiratete Lotte Schwarz – nach einer langen Phase in „freier Liebe“ – den jüngeren katholischen Architekten Felix Schwarz und zog mit ihm und ihren beiden Söhnen aufs Land in ein buchstäblich selbstgebautes Haus. Aus Kontakten zu früheren Exilanten ergaben sich Hilfs- und Aufbauleistungen für den Architekten, so z.B. im benachbarten Italien. Ihre Familie im zerstörten Hamburg unterstützte Lotte Schwarz anfangs mit Paketen und organisierte größere Hilfen für die Hamburger Bevölkerung über das Schweizerische Arbeiterhilfswerk, dem sie und ihr Mann angehörten: “Nebst der Hilfe vor Ort wurden Sammeltransporte durchgeführt, sogenannte Kinderzüge, die es deutschen Kindern ermöglichten, sich während einiger Wochen bei Schweizer Familien von den Kriegserlebnissen und dem Nachkriegselend zu erholen“ (Uhlig: 202 f.). 1947 reiste sie in ihre zerstörte Heimatstadt und hielt im Rathaus einen Vortrag. Aus Beständen des Sozialarchivs half sie beim Wiederaufbau der Hamburger Bücherhallen. Sie fuhr dann jährlich nach Hamburg und weiter an die von ihr vermisste Nordsee.
In ihren letzten Lebensjahren fertigte Lotte Schwarz zum Beispiel Recycling-Skulpturen aus Holzabfällen, vermarktete Bugsperrholz des genialen Erfinders der Marke Lignoform; sie verfasste Texte zu sozialen und feministischen Themen, schrieb Vorträge fürs Radio, war ehrenamtlich tätig und kandidierte – während der Chemotherapien bereits – als eine der ersten Frauen 1971 für die Sozialdemokratische Partei SP um einen Kantonsratssitz in Zürich. Ihr Schreibstil ist analytisch-kritisch, was die Erkenntnis sozialer Missstände angeht; ausgestattet mit fotografischem Blick und der Liebe zu Menschen, ihren Besonderheiten, Stärken und Schwächen; schien die Lage auch trostlos, Schalk, Humor und Lebensoptimismus blitzen hindurch.
Zentrale Ereignisse des 20. Jahrhunderts hat sie persönlich miterlebt: Die deutsche Novemberrevolution und das Kriegsende 1918, die Parteispaltung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die Weltwirtschaftskrise, den Kampf gegen den Faschismus und die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Lotte Schwarz blieb auch zur Zeit des Kalten Krieges politisch, künstlerisch wie als Schriftstellerin und Journalistin aktiv. Lotte Schwarz starb am 6. Oktober 1971, zwei Tage nach ihrem 61. Geburtstag. Vor großem Kreis von Familienmitgliedern, Freund_innen und Weggefährten hielt der deutsch-schweizer Essayist und Journalist Francois Bondy eine eindrückliche Rede. Bei der Trauerfeier auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich hob er ihre bis zum Schluss bewährte Heiterkeit und Tapferkeit hervor (Uhlig: 291).
Autorin: Dr. Cornelia Göksu