Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Ingrid Kantorowicz Ingrid Kantorowicz, geb. Schneider

(27.10.1921 – 15.7.2014)
Professorin für Modedesign; Tätigkeit an den Hochschulen für Angewandte Kunst in Leipzig, Berlin und Hamburg
Armgartstraße 24 (Wirkungsstätte)
Sierichstraße 148 (Privatadresse)
Bestattet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756, Grablage: H 8, 140


4297 Ingrid Kantorowicz
Porträt von Ingrid Kantorowicz, nicht datiert (Ende 1960er Jahre). Fotografie. Archiv Armgartstraße, HAW Hamburg (Inv.Nr. HAW 2013_012)

In ihrem Lebensrückblick schrieb Ingrid Kantorowicz Ende des 20. Jahrhunderts über ihre prägenden Anfangsjahre unter der Überschrift "Vom moralischen Gewinn der Niederlage“: „Unter diesem Titel will ich über die Jahre 1945 bis 1961 berichten. Anfangs lebte ich in der Sowjetischen Besatzungszone, von 1948 an in der ‚Deutschen Demokratischen Republik’, zu der die Zone erklärt wurde, und arbeitete an den Kunsthochschulen in Berlin und Leipzig.
Heute, aus der Distanz der Jahrzehnte, sehe ich, dass diese Jahre für mein späteres Leben von großer Bedeutung waren, auch wenn sie in einer Sackgasse endeten. ‚Für einen Lebensabschnitt’, sagt Thomas Mann, ‚sind nicht Glück oder Unglück entscheidend, sondern der Tiefgang dieses Lebens ist es, worauf es ankommt’.
Zum besseren Verständnis meines Themas möchte ich heute1999, um 60 Jahre zurückgehen in das Jahr 1939, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Anfangs lebte ich in der Sowjetischen Besatzungszone, von 1948 an in der ‚Deutschen Demokratischen Republik’ (....) und arbeitete an den Kunsthochschulen in Berlin und Leipzig“ (1: 340).
Im Jahr des Kriegsbeginns 1939 war die achtzehnjährige Abiturientin zum „Reichsarbeitsdienst“ verpflichtet. Als sie einen der begehrten Studienplätze an der Fakultät für Bühnenbild, Theater- und Filmkostüm erhielt, war sie davon befreit. Ihr Theaterpraktikum führte sie gleich an das Staatliche Schauspielhaus zu Gustaf Gründgens mit seinem damaligen Spitzen-Ensemble. Als Assistentin des Inspizienten stand sie sofort in der praktischen Verantwortung. Aus dem bombardierten Berlin gelang ihr 1943 die Ausreise nach Wien, wo sie vier weitere Semester an der dortigen Hochschule für angewandte Kunst studierte. Sie finanzierte sich als Aushilfe in einem Buch-Antiquariat und im Malersaal der Oper (1: 341). Im Zuge ihrer Kriegsverpflichtung ließ sie sich 1945 – zurück in Berlin – zum „Dolmetscher für Französisch“ ausbilden. Anrührend-illustrativ entwarf sie in ihren Erinnerungen, wie mit zarten Aquarellstrichen, ihre Aufnahme in den frisch gegründeten „Verband Bildender Künstler“ mitten in den Trümmerfeldern West-Berlins. Der über die Aufnahmen (und damit auch über die Zuteilung einer weiteren Lebensmittelkarte!) entschied, war der Maler Max Schwimmer. Er ermöglichte ihr daraufhin eine Stellung als seine Stellvertreterin in der Leitung des Instituts für Angewandte Kunst in Leipzig und im dortigen Aufbau einer „Klasse für historisches und modernes Kostüm“ (1:342). In den folgenden Jahren arbeitete sie als Dozentin sowohl in Leipzig als auch an der ersten – nach dem 2. Weltkrieg neu konzipierten – Kunsthochschule Berlin-Weißensee (gegründet von dem holländischen Keramiker Bontjes van Beek sowie den Bildhauern Bernhard Heiliger und Gustav Seitz – die Kunsthochschule sollte die moderne Zentrale des Austausches zwischen Ost und West sein, in der Auseinandersetzung zwischen Abstraktion kontra Sozialistischem Realismus; vgl. Quelle 1:343). „In Berlin lebte ich in dieser Zeit unter Schriftstellern und Künstlern, die aus den Exilländern England, Frankreich, aus der Sowjetunion, den USA und Mexiko nach Ostdeutschland gekommen waren. Sie brachten ihre Erfahrungen und Ansichten, für die sie auch in den Jahren des Exils eingetreten waren, mit. Von ihnen kamen neue Gedanken und Initiativen, neue Ideen, die sie in anderen Ländern erprobt hatten. Vor allem waren es ihr fachliches Können, aber auch differenziertere politische Ansichten, die sie in diesen Teil des schon damals getrennten Landes mitbrachten. Das Land war ja vom Krieg verwüstet und in der Zeit des Nationalsozialismus vom Ausland abgeschnitten“ (1: 344). Sieben Jahre lang hielt Ingrid Schneider die Doppeltätigkeit aus. Gemeinsam mit dem Leiter Max Schwimmer verhalf sie dem Leipziger Institut zu Renommee „weit über den Zeitgeist hinaus“.
1951 wurde sie als Professorin an die Hochschule in Berlin-Weißensee berufen, um dort neben ihrer Klasse „Bühnenbild“ eine Abteilung für angewandte Kunst mit den Klassen Textilentwurf, Kostümentwurf für Theater und Film und für Mode aufzubauen (1:346). Der neue Direktor Mart Stam (inspiriert von Bauhaus) „bestand auf einem Künstlerkollegium aus Ost- und West-Berlin mit der Begründung, nur der Austausch unterschiedlicher, differenzierter Meinungen und Stadtpunkte könnte Qualität garantieren (...) innerhalb von wenigen Tagen schied er aus und ging nach Holland zurück (...) Er war der letzte, der es sich seines internationalen Renommees wegen leisten konnte deutlichen Widerstand zu zeigen“ (1:347). Ingrid Kantorowicz führte zahlreiche Beispiele für die „destruktive Macht der SED-Führung“ an den Arbeiten begabter überzeugten kommunistischer Künstler auf. „In dieser Zeit, also nach 1957, wurde die Atmosphäre in den endlosen Sitzungen und bei Gesprächen von Irritationen und Misstrauen beherrscht. Meine Abteilung war davon noch unberührt. (...) Ich investierte viel Arbeit, um die jungen, intelligenten und begabten Leute mit Ideen und Themen zu ‚füttern’ – damit sie Freude am Studium und Erfolgserlebnisse hatten. Für die Arbeit an eigenen Entwürfen und Zeichnungen blieb nur wenig Zeit. Es war um 1960, als ich Blockaden bei der Durchführung meiner Pläne bemerkte. Ich versuchte, mit dem Direktor der Hochschule zu sprechen. Er zuckte hilflos mit den Schultern und meinte, er könne keine Gründe nennen und auch keine Hilfe bei den ‚oberen Stellen’ erreichen. Meine Studenten hatten bei Ausstellungen Erfolg mit ihren modernen attraktiven Entwürfen. (...) Gleichzeitig sagte man mir jedoch, dass man wirklich bedauere, dass eine entsprechend bessere Planstelle für mich vom Ministerium abgelehnt worden sei. Mein gesellschaftliches Herkommen sei bürgerlich, erschwerend komme hinzu, dass ich Verwandte ersten Grades – meine Eltern – in Westdeutschland hätte.
Außerdem erwähnte man einen Diskussionsbeitrag von mir zum Mauerbau am 13. August 1961, über den noch verhandelt werden müsse! Ich wusste sofort Bescheid.
Es gab im Kollegium eine Auseinandersetzung über Studenten, die versucht hatten, zu flüchten, und von Grenzposten verhaftet worden waren. Ich hatte gesagt, dass ich es für bedenklich hielte, wenn hohe Funktionäre unseres Staates Flucht und auch Fluchthilfe – jetzt, im Jahre 1961 – als Verbrechen bezeichneten. Sie hatten es doch selbst erlebt, als sie 1940 oder 1941 als Exilierte z. B. in Frankreich lebten und dort die Hilfe französischer Behörden in Anspruch nahmen, um nicht von den näher rückenden deutschen Truppen verhaftet zu werden.
Damals waren sie aus Deutschland geflohen vor einem Regime, in dem sie nicht leben konnten oder wollten. 1940 nannten sie es ‚Hilfe’ und ‚Menschlichkeit’, was sie 1961 verdammten. Damals hielten sie es für gerechtfertigt, sich falscher Ausweise zu bedienen, um zu entkommen. Aber jetzt stimmten sie zu und unterschrieben Gesetzte gegen Menschen, die zu flüchten versuchten. Sie verurteilten sie und ihre Helfer zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen. Das sei doppelte Moral und doppeltes Maß und in jedem Fall zu bedenken. Denn viele hätten gar nicht überlebt, wenn nicht 1941 französische Dienststellen oder einfache Polizisten manches gewagt hätten, was nicht in Verordnungen und Vorschriften vorgesehen war, um ihnen Schutz zu gewähren.
Als ich geendigt hatte, war das Schweigen meiner Kollegen eisig. Damit war mein Schicksal besiegelt! Ich wusste, das geht nicht gut! Jetzt ist es aus! Ich war verbittert, verletzt, erschöpft. Ich war entschlossen zu gehen. (...) Anfang November 1961 flüchtete ich aus der DDR.“(1: 349 f.).
Aus Westberlin nach Hamburg gekommen, konnte Ingrid Kantorowicz sich etablieren. Dazu schrieb sie: „In der Bundesrepublik gelang es mir – nach einer schwierigen Anfangszeit – Boden unter die Füße zu bekommen. Nach ein paar Jahren erhielt ich eine feste Anstellung an der Hamburger Werkkunstschule. Die Erfahrungen im Beruf, die ich von ‚drüben’ mitgebracht hatte, waren die Basis für meine Arbeiten, z. B. ein entspanntes Reagieren auf Druck von außen. Und vor allem: Ich hatte Übersicht über mich selbst. Ich lernte dazu und hatte Erfolg. (1:350).
1962 erhielt sie zunächst einen Lehrauftrag, ein Jahr später bis 1979 eine Dozentur für Mode-Entwurf an der damaligen „Meisterschule für Mode – Werkkunstschule für Textil, Werbung und Graphik der Freien und Hansestadt Hamburg“, die 1970 in die „Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung“ überführt wurde (seit 2001 Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW, Department Design). 1980 erhielt sie die Professur. Sie beschäftigte sich mit Textildessins, Modeentwürfen und Entwürfen für Bühnenkostüme. Ingrid Kantorowicz prägte mit ihrem Wirken im Entwurf Generationen von Meisterschülerinnen und Designstudierende und dies weit über die Grenzen Hamburgs hinaus. 1986 wurde sie pensioniert.
Verheiratet war sie mit Alfred Kantorowicz (1899 Berlin -1979 Hamburg). Sie war seine dritte Ehefrau. Er war, als Jude und Kommunist von den Nationalsozialisten verfolgt, in der Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der promovierte Jurist in die DDR und wurde dort Verleger, Publizist und Professor für neue deutsche Literatur. 1957 floh er in die Bundesrepublik, wo er 16 Jahre lang mit seiner dritten Frau Ingrid in Hamburg lebte. 1980 übereignete Ingrid Kantorowicz einen umfangreichen Briefwechsel ihres Mannes dem Staatsarchiv Hamburg, dem er es bereits 1969 testamentarisch zugeeignet hatte, als er aus Bayern nach Hamburg zog.
Ein Teil ihres künstlerischen Nachlasses befindet sich im „Archiv Armgartstraße“ der HAW, welches Frau Prof. Dr. Birgit Haase betreut. Das Archiv ist nicht öffentlich zugänglich. Der Bestand enthält „versprengte Materialien wie Grafiken, Arbeitszeichnungen, Stoff-Entwürfe, z. T. Manuskripte“ [2].
Text: Dr. Cornelia Göksu