Hildegard Wohlgemuth
(24.2.1933 Pillkallen/ehem. Gebiet Königsberg/Ostpreußen; seit 1946 Mosenskoje/Kaliningrad, seit 1992 Exklave Russ. Föderation – 11.11.2003 Hamburg)
Malerin
Langenhorner Chaussee 560, Klinik Ochsenzoll (Wohnadresse)
Randowstraße 23 (Wohnadresse)
Am Isfeld 19, Seniorenheim Tabea, (letzte Wohnadresse von Fr. Dr. Heuer, die als Medizinerin Hildegard Wohlgemuth die erste private Unterkunft für sich und ihre Tochter gewährte (1))
Stadionstraße, Hauptfriedhof Altona Volkspark (Grabstätte 44.I.04.38, Laufzeit bis 2028 (2))
„Von Hildegard Wohlgemuth gibt es viel zu erzählen: von den Schicksalsschlägen, die sie während der Kriegsjahre erlitten hat – Verlust der Heimat in Ostpreußen, Verlust der Familie, Bombenangriff in Leipzig und Verlust ihrer gesamten Kinderheimgruppe, drei Tage verschüttet unter den Trümmern des Hauses, in dem sie mit ihrer Gruppe Schutz gesucht hatte – von den Stimmen und Geistern, die sie danach hörte und sah, von ihrem bewegten Leben zwischen Psychiatrie und Obdachlosigkeit, von ihren Erfahrungen als Bettlerin in Paris und wie es ihr trotz allem schließlich gelungen ist, ihre Tochter Petra zur Welt zu bringen und mit ihr zusammen in einer kleinen Hamburger Sozialwohnung ein halbwegs normales Leben außerhalb der Psychiatrie zu führen. Das alles wäre schon spannend genug. Aber heute steht ihre Kunst im Mittelpunkt, ihre grell-bunten, teils naiv anmutenden, teils vielschichtig-hintergründigen Filzstiftzeichnungen, die in den nächsten vier Wochen hier zu sehen sein werden“. So begann der Festvortrag, den die Psychotherapeutin und Sammlerin Dr. Heike Schulz zur Eröffnung einer Werkschau mit Bildern von Hildegard Wohlgemuth am 3. Dezember 2013 in Freiburg hielt.
Frau Dr. Schulz hatte Hildegard auf einem Psychiatrie-Kongress 1997 kennen gelernt[3]. Über das Ergebnis ihrer sorgfältigen biografischen Erkundungen läßt sich folgendes rekonstruieren: Hildegard Wohlgemuths Vater war Staatsförster in Pogegen, Kreis Tilsit /Ragnit gewesen[4]. Hildegard wuchs mit vier Geschwistern auf, drei Jungen und eine Schwester. Durch einen Unfall starb ihr Zwillingsbruder im Alter von drei oder vier Jahren, der erste Lebensschock. Dann folgte die Scheidung der Eltern, Hildegard bleibt zunächst beim Vater, das Schicksal der leiblichen Mutter ist unbekannt. Die Kinder wurden getrennt in verschiedenen Heimen untergebracht. Hildegard konnte 1939 nur ein Jahr eine Schule besuchen, denn danach wurden in den Schulgebäuden deutsche Soldaten einquartiert. 1942 – angesichts der bedrohlichen Lage an der Ostfront – wurden Kinder deutscher Eltern aus Ostpreußen in westlich gelegene Heime „verschickt“; Hildegard und ihre Gruppe kamen über die Kreisstädte Rastenburg und Lyck (beide ehem. Ostpreußen/Masuren, seit 1945 Polen) nach Leipzig.
Es muss Ende 1943 oder Anfang 1944 gewesen sein: Alle 26 Kinder ihrer Gruppe und die Betreuerin kamen bei einem Bombenangriff ums Leben. Hildegard überlebte als einzige. Verschüttet unter Trümmern musste sie drei Tage allein im Dunkeln ausharren bis sie befreit wurde. Dies war der Beginn ihrer Erkrankung: Albträume, Angstzustände, veränderte Wahrnehmung. Hildegard hörte die Stimmen der toten Kinder und sah sie als kleine Geister, die mit ihr spielen wollten; die Stimme der Betreuerin verfolgte sie mit bedrohlichen Botschaften, die ihr – als einzig Überlebender – Schuldgefühle suggerierte.
Nach Kriegsende blieb die Suche nach Eltern und Geschwistern in allen Flüchtlingslagern erfolglos: Hildegard mochte nirgends bleiben, sie schlug sich allein durch, wanderte durchs Land, schlief meistens im Freien, im Wald; dort fühlt sie sich sicher [5]. Bis sie schließlich 1948, mit 15 Jahren, in einem Kloster bei Bonn untergebracht wurde. Dort sollte sie Kenntnisse in der Hauswirtschaft erwerben. Mit den Nonnen kam sie jedoch nicht klar. Als sie auch noch von ihren Stimmen erzählte, wollten sie sie in die Psychiatrie bringen. Hildegard floh.
Zwei Jahre später 1950, sie war 17, wurde Hildegard in Hamburg nach einem Suizidversuch in die Psychiatrie Ochsenzoll in Hamburg-Langenhorn gebracht. Dort wurde sie 17 Jahre lang unter der Diagnose Schizophrenie behandelt und verwahrt. Trotz der Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung gelang es ihr immer wieder fortzulaufen, manchmal reiste sie bis nach Paris. Aber wenn sie draußen nicht mehr zurechtkam, ließ sie sich freiwillig in die Klinik zurückbringen. – Durch Mitpatienten lernte sie dort rechnen, lesen und schreiben.
Gegen den Rat einiger ihrer Ärzte brachte Hildegard 1966, mit 33 Jahren, eine Tochter zur Welt. Die Mutterschaft veränderte ihr Leben grundlegend: „War nun Mutter. Alles andere, auch meine Krankheit, war unwichtig“, schrieb sie in einem selbst verfassten Lebenslauf. Da sie als Patientin der geschlossenen Psychiatrie „entmündigt“ war und ihr Kind innerhalb der Einrichtung nicht hätte behalten dürfen, war die Aussicht auf eine Schwangerschaft im privaten Umfeld nur durch Vermittlung möglich. Ihr damaliger „Vormund“, die Ärztin Frau Dr. Heuer, richtete ihr einen Wohnraum im eigenen Privathaus ein, um ihr zu ermöglichen, ihr Kind selbst zu versorgen und es in einer normalen Umgebung aufwachsen zu lassen. Der nächste, damals „revolutionäre“ Schritt: Eine eigene Wohnung. Sechs Jahre später war es soweit: 1972 – nach einem längeren Kampf mit den Behörden – durfte Hildegard zusammen mit ihrer Tochter eine Sozialwohnung im Hamburger Stadtteil Lurup beziehen, die sie bis zu ihrem Tod bewohnte.
Die kleinbürgerliche Umgebung einer eng bebauten Sozialsiedlung wird ihr zu schaffen gemacht haben, hin und wieder gönnte sie sich „Auszeiten bei den Clochards in Paris“. Trotz eigener Wohnung, Tochter, einer wachsenden Anzahl von Enkeln (später insgesamt vier) und Freunden in Hamburg reiste Hildegard weiterhin – per Anhalter oder Bus – fast jedes Jahr nach Paris, zu den Clochards. In deren Gemeinschaft fühlte sie sich geborgen, anerkannt und zuhause. Sie wollte dort „zur Ruhe kommen“, wie sie in ihren Tagebüchern schrieb. Erst als mit dem Älterwerden das Übernachten auf Bänken im Freien beschwerlicher wurde, verzichtete Hildegard auf solche „Ausflüge“[6].
„Hildegard Wohlgemuth war bereits 52 Jahre alt, als sie als Bettlerin auf dem Hamburger Gänsemarkt stand und von einer Frau etwa gleichen Alters angesprochen wurde. Sie bewunderte den selbstgehäkelten Wollmantel, den Hildegard damals trug, und lud sie zu einem Kaffee ein. Das war der Beginn ihrer Freundschaft mit der Künstlerin Elisabeth Ediger, die für Hildegards eigene künstlerische Karriere so etwas wie eine Hebamme gewesen ist. Elisabeth lud Hildegard ein, einmal in der Woche zum Malen zu ihr ins Atelier zu kommen. Sie spürte eine große innere Nähe zu Hildegard, hatte sie doch selbst die Schrecken des Krieges erlebt, die Flucht aus Ostpreußen, den Verlust von Heimat und eines großen Teils ihrer Familie und Freunde. In der künstlerischen Arbeit hatte sie einen Weg gefunden, Vergangenes zu verarbeiten. Sie hoffte, Hildegard würde unter ihrer Obhut vielleicht einen ähnlichen Weg für sich finden. Dabei ging es ihr nicht um Therapie und auch nicht um Kunst. Sie wollte ihr nichts beibringen, sie nicht einengen mit Regeln oder Bewertungen, sie wollte ihr nur Mut machen, sich einzulassen auf das, was dabei entstand.
Hildegard nahm dieses Angebot bereitwillig an. Sie kam jeden Dienstag, immer pünktlich und immer mit einer langen Rose als Geschenk für Elisabeth. Dann setzte sie sich vor eine Wand, die Elisabeth für sie mit grundiertem Packpapier beklebt hatte. Als Farben standen ihr Pigmente und Bindemittel zur Verfügung, die Hildegard selbst mischen musste.
Wie Elisabeth berichtet, war es ein langer und mühsamer Prozess, bis Hildegard sich traute, von den Bildern, die sie in sich trug, etwas herauszulassen. Statt mit bunten Farben, die sie später nutzte, arbeitete sie zunächst fast nur mit Schwarz. Es waren trostlose Bilder von Ausweglosigkeit, Schmerz, Angst und Gefangensein. Aber ganz allmählich wurde ihre Bilderwelt heller und farbiger. Ihr Selbstvertrauen wuchs. Elisabeths Atelier wurde für sie zu dem, was man in der Traumatherapie einen „sicheren Ort“ nennt, also zu dem Ort, an dem sie den nötigen Schutz fand, um den bedrohlichen Erinnerungen standzuhalten. Am Ende dieser ersten Jahre des Malens bei Elisabeth steht das Bild einer Frau, die aufrecht mit ausgebreiteten Armen in einer offenen Tür steht und ins Freie schaut. ‚Öffnung’ hat Hildegard dieses Bild genannt. Das Motiv taucht in vielfachen Variationen später immer wieder in ihren Arbeiten auf.
1990 zog Elisabeth Ediger nach Lübeck um, und die gemeinsamen Dienstage konnten nicht mehr wie gewohnt stattfinden. Die Kontakte wurden seltener und unregelmäßiger. Aber das Malen war für Hildegard bereits zu einer inneren Notwendigkeit geworden. Sie begann daher sofort, diese Arbeit auf eigene Faust fortzusetzen. Zuhause auf ihrem kleinen Wohnzimmertisch war es eng. Technik und Materialien musste sie entsprechend verändern. So entstanden zunächst nur kleinformatige Zeichnungen im Format A 4, für die sie fast ausschließlich Filzstifte nutzte. Die praktischen Aspekte der Handhabung und der leichteren Verfügbarkeit waren aber nur äußere Gründe für den Stilwandel. Mit den Stiften war es ihr möglich, den starken Fluss von Bildern, der sie oft zu überschwemmen drohte, einzugrenzen, klare Konturen und Strukturen zu schaffen und damit mehr und mehr das Unfassbare ihrer traumatischen Erinnerungen zu bannen. Die Konturen geben Halt, schaffen Distanz und Kontrolle über eine im Wortsinne ‚verrückte’ Erlebniswelt, der die Malerin bisher hilflos ausgeliefert war.
Auch für die intensiv leuchtenden Farben gibt es Gründe, die nicht nur im Ästhetischen liegen. Das Trauma der Verschüttung verfolgte Hildegard zeitlebens wie ein schwarzer Schatten. Manchmal, in depressiven Phasen kam er ganz nahe und drohte, sie zu überwältigen. In ihrem Pariser Tagebuch hat sie diesen Zustand durch eine komplett mit einem schwarzen Stift zugekritzelte Seite dargestellt und am Rand notiert: ‚So schwarz ist es in mir – so schwer – drei Tage schon. Es ist so schwarz – der Tod. Ich muss da wieder raus.’
Es waren das Licht und die Farben, die Leben und Rettung bedeuteten, als man sie damals nach dem Bombenangriff aus dem dunklen Keller befreite. Mit den Farben der leuchtenden, grell bunten Filzstifte gelingt es ihr, dieses Erlebnis immer wieder hervorzuholen und dem diffusen bedrohlichen Schwarz etwas entgegenzusetzen, was buchstäblich Licht ins Dunkel ihrer Erinnerungen bringt, und zwar in einer nicht zu übersehenden Intensität.
Später beim Betteln auf der Straße, inmitten von bunter Werbung und lauter Geschäftigkeit, waren die starken Farben ein wichtiges Mittel, um Aufmerksamkeit zu erlangen für ihre Anliegen und Botschaften. Auf ihren Bettelschürzen, den großformatigen Plakaten, die sie sich beim Betteln wie eine Schürze um den Bauch zu binden pflegte, formuliert sie diese auch mit Worten, aber das Bild im oberen rechten Drittel der Schürze ist immer der Blickfang, der das Interesse für den Text erst weckt und zugleich vielschichtig kommentiert [7]. Als Beispiel dafür, wie Hildegard Wohlgemuth das Ringen um Kontrolle über ‚Verrücktes’ in ihrem Unterbewusstsein zur Darstellung bringt, möchte ich auf ein Bild hinweisen, in dem eine blaue Katze unter einem in hellen, warmen Farben leuchtenden Regenbogen (oder besser: Sonnenbogen) sitzt. Die Position der Katze drückt häufig etwas von der Befindlichkeit der Malerin selbst aus. Katzen, die von Natur aus viele Wesenszüge mit ihr teilen, spielen in ihren Bildern eine zentrale Rolle, man kann sagen, sie stellen so etwas wie ein Alter Ego dar. In diesem Bild thront die Katze im oberen Drittel direkt in der Mitte des Bildes. Unter ihr, durch kräftige waagerechte Linien begrenzt, zeigen sich ‚verrückte’ Gestalten, Kopffüßler mit dünnen Beinen, der eine lächelt, der andere zeigt die Zähne, im oder über dem Kopf des einen ein grinsender Dämon, darunter eine zweite kleinere Katze, schreckhaft und sprungbereit. Die obere blaue Katze lässt sich von diesem Treiben nicht aus der Ruhe bringen. Mit wachsamen Augen scheint sie aufzupassen, dass die ‚verrückten’ Gestalten nicht nach oben kommen und ihr den ‚Platz unter der Sonne’ streitig machen.
Kontrolle über ‚Verrücktes’ zu gewinnen, es in eine Ordnung zu bringen, verfügbar zu machen, das ist nicht das einzige Thema, mit dem Hildegard Wohlgemuth sich in ihren Bildern auseinandersetzt. Auch die Erfahrungen mit äußeren Gegebenheiten und die Kommunikation mit bestimmten Personen oder Gruppen spiegeln sich in ihnen wider: das Eingeschlossensein unter Mauern und die Befreiung, vor allem in den frühen Bildern; die Erfahrungen in der Psychiatrie und im Obdachlosenmilieu; das Engagement in der Öffentlichkeitsarbeit, speziell das Bemühen um Aufklärung über ‚schizophrenes’ Erleben (Stimmenhören, Farbenrausch, übersteigerte Wahrnehmung u.a.); – die Natur mit Tieren, Pflanzen, den Elementen und Himmelskörpern – eine Welt, die ihr Kraft gab, in der sie sich geborgen fühlte; und schließlich auch die Rolle der Großmutter, die ihren Enkeln etwas Nettes erzählen möchte (z. B. in dem späten sehr heiteren Bild mit Blumenvase, Bienen, Fröschen, Hahn und lachender Sonne).
Nachdem Hildegard in den Filzstiften ein Instrument der Befreiung entdeckt hatte, begann für sie eine Phase äußerster Produktivität. Unter großem inneren Druck malte sie oft bis zur Erschöpfung. Was dabei entstand, nahm sie häufig mit auf die Straße, um es für wenig Geld zu verkaufen oder auch zu verschenken.“ [8]. Ab 1993 fand sie Resonanz in der Welt der Medien, der Psychiatrie und der Kunst. Das reichte von Auftritten bei Psychiatrie-Kongressen bis zu Berichten in der Fachliteratur. „Der NDR drehte einen Dokumentarfilm mit ihr (Titel: Meine Geister – die Kinder. Ein Leben in Schizophrenie, 1994), Alfred Biolek und Jürgen Fliege luden sie 2000 und 2001 in ihre Talkshows ein, die Presse berichtete über sie. Der Hamburger Psychologieprofessor Thomas Bock verfasste zusammen mit der Journalistin Irene Stratenwerth ein Kinderbuch, das auf ihrer authentischen Biografie basiert und von ihr selbst illustriert wurde (‚Die Bettelkönigin’, Psychiatrie Verlag 1998). Das Museum Schloss Salder in Salzgitter präsentierte schon zu Lebzeiten 1998 ihre Werke in einer umfangreichen Einzelausstellung. Sie wurde berühmt, – reich allerdings wurde sie nicht“ (Zitat Heike Schulz 2013). Zudem arbeitete die Malerin mit im Schulprojekt des Vereins „Irre menschlich Hamburg e.V. Weitere Ausstellungen waren überwiegend in sozialen Einrichtungen in Hamburg, Freiburg, Berlin und Bayreuth zu sehen (Heike Schulz, Lebenslauf).
Die Bilder, welche in der Werkschau in Freiburg/Breisgau 2013 zu sehen waren, „sind Teil einer Sammlung, die ich aus verschiedenen Quellen zusammengeführt habe und die seit kurzem Aufnahme in den Bestand des Bayreuther Kunstmuseums gefunden hat. Das ist schon etwas ganz Besonderes, dass diese Werke nun mit der gleichen Sorgfalt und Achtung wie die Arbeiten schon berühmter Künstler wie z.B. Picasso und Klee als Kulturgut bewahrt werden. Nun können wir mit Recht sagen, Hildegard Wohlgemuth ist angekommen in der Welt der Kunst. (...) Sie selbst hatte diesen Traum schon bald, nachdem sie Elisabeth Ediger kennengelernt und mit dem Malen begonnen hatte. Auf einer ihrer frühen Betteltafeln – den Vorläufern der Bettelschürzen – schreibt sie: ‚Mache Kultur. Kunst. Malen’. Im Bildteil dieser Tafel eine Collage von Ausschnitten aus Illustrierten, die Welt der Reichen und Schönen, dazwischen wie von Kinderhand gezeichnet eine kleine Frauengestalt, die die Arme in den Himmel streckt, als wollte sie nach den Sternen greifen. Wie ein Wesen von einem anderen Stern, in der Welt der Zeitschriften die Außenseiterin, unverkennbar. Aber sie bleibt nicht im Abseits, sie stellt sich mitten hinein in diese Welt und sagt uns: ‚Hallo, ich bin da, ich gehöre zu euch, schaut hin, ich habe euch etwas mitzuteilen!’“. Soweit Dr. Heike Schulz in ihrer Ansprache zur Werkschau mit Arbeiten von Hildegard Wohlgemuth im OFF Freiburg e.V. am 3. Dezember 2013 (Zitat wie Anm. [8]: Heike Schulz 2013, das pdf enthält auch viele der oben beschriebenen Bildmotive von Hildegard Wohlgemuth).
Kurios aber wahr: Fast gleichzeitig mit Hildegard Wohlgemuth, der Malerin, lebte eine Schriftstellerin und Poetin mit exakt gleicher Namenschreibung in Hamburg. Sie finden Ihren Lebenslauf auch in dieser Datenbank (Hildegard Wohlgemuth :4342}}). Einige der Gedichte der Schriftstellerin {{Bio:Hildegard Wohlgemuth sind wohl sogar in einem Sammelband erschienen, zu dessen Nachdruck die Malerin versehentlich ihr Placet gab. Wie es dazu kam? Dr. Heike Schulz erinnert sich: „Ob sie sich je in Hamburg begegnet sind? Wie ist Hildegard an die Gedichte gekommen? Sie selbst glaubte tatsächlich, dass die Texte von ihr seien und dass Redakteure, die sie in die Hände bekamen, daraus Gedichte gemacht hätten. Als ich die Verwechslung der beiden Frauen entdeckte und mit den Verlagen Kontakt aufnahm, erfuhr ich u.a. Folgendes: Der Lektor wollte mit der Dichterin klären, ob sie mit einer Neuauflage eines ihrer Gedichtbände einverstanden sei, und versuchte sie telefonisch zu erreichen. Die Nummer funktionierte nicht mehr, da die Dichterin H.W. inzwischen verstorben war – was der Lektor aber nicht erfahren hatte. So suchte er im Telefonbuch nach ihr – vielleicht war sie ja umgezogen – und fand dort die Nummer der Malerin H.W., die von der Anfrage gar nicht überrascht schien. Sie stimmte der Neuauflage zu und nahm sogar das Angebot, dass der Verlag ihr Belegexemplare schicken könne, dankend an. Sie erhielt diese Bücher, freute sich, ‚ihre’ Texte in korrekter, schöner Schrift gedruckt und zu einem Buch gebunden in Händen zu haben – und der Verlag ahnte immer noch nichts! Aus Sicht der Malerin war das ganz sicher keine bewusste Täuschung. Sie schrieb tatsächlich auch eigene Texte. Manche verteilte sie z. B. beim Betteln an Passanten oder an vertraute Personen, wie Elisabeth Ediger, die Hildegards Tagebücher bearbeitet hat und dafür auch gern einen Verlag gefunden hätte. Es war für die Malerin also nicht ganz abwegig zu glauben, dass ihre eigenen Texte bearbeitet worden und in einem Gedichtband erschienen seien“ [9].
„Dank der vielfältigen Wertschätzung und ihres gewachsenen Selbstbewusstseins“ gelang es Hildegard 1994, noch im Alter von bereits 61 Jahren, ihre amtliche ‚Wiederbemündigung’ durchzusetzen. Am 11.11.2003 starb Hildegard Wohlgemuth nach kurzer schwerer Erkrankung in einem Hamburger Krankenhaus; auf dem Hauptfriedhof Altona Volkspark ist sie begraben. Begräbnis und Grabstein finanzierte der Hamburger Psychiatrieprofessor Thomas Bock. Zum Schluss noch zum Grab von Hildegard: Es befindet sich auf dem Hauptfriedhof Altona. Vor ein paar Jahren wollte ich es besuchen und habe dabei gesehen, dass der Grabstein, der ebenerdig auf das Grab gelegt worden war, gar nicht mehr sichtbar ist, weil Gras darüber gewachsen ist. Die Beerdigung hatte Prof. Bock damals organisiert, danach hat sich aber offenbar niemand um die Grabpflege gekümmert“. Die Laufzeit der Grabstelle endet erst 2028 (vgl. Anm. [1] +[2]).
Text: Dr. Cornelia Göksu und Dr. Heike Schulz