Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Leonore Gottschalk-Solger Leonore Gottschalk-Solger, geb. Swoboda, später umbenannt in Solger (Qu.1:46)

(7.10.1936 Dittersdorf/Kr. Neustadt, Oberschlesien, heute Lkr. Opole/Polen – 31.10.2016 Hamburg)
Star-Anwältin, Strafverteidigerin
Curschmannstraße 7 (Wohnadresse. Quelle: Google)
Colonnaden 49 (Wirkungsstätte, Rechtsanwaltsbüro Colonnaden ?)
Manshardtstraße 200, Friedhof Öjendorf (letzte Ruhestätte, Grablage 402-03-111; Qu: 6)


Was steckt dahinter? Dieser Titel des Hamburger Verzeichnisses der nach Frauen benannten Straßen von Dr. Rita Bake könnte Leonore Gottschalk-Solger als Lebensmotto gedient haben. Als Leonore Swoboda wurde sie 1936 in Dittersdorf, im damaligen Oberschlesien geboren. „Die Eltern Gabriele (geborene Hanke) und Viktor trugen den slawischen Namen (Swoboda heißt auf polnisch = Freiheit, Unabhängigkeit, CG.), den sie später, als der Vater Offizier und in den Krieg eingezogen wurde, in den deutschen Namen Solger umwandeln ließen. Leonore kam als zweites von vier Kindern zur Welt. Die Familie lebte in einem Teil der Schule, in der der Vater Lehrer und Schulleiter war. Er beherrschte mehrere Fremdsprachen und hatte Geschichte studiert“. Die Mutter kümmerte sich unter anderem um den großen Garten und konnte gut nähen und fabelhaft kochen. Die Swobodas beschäftigten ein Hausmädchen, das sich mit um die Kinder und den Haushalt kümmerte. Es gab eine Tante, deren Mann ein großes Fotoatelier in Schlesien betrieb und auch Kunstfotos machte. (Informationen und Zitat aus Qu: [1], S. 46). Ein Schwager des Vaters war Arzt und lebte in der Nähe von Kattowicz in einem schlossähnlichen Haus mit Türmchen. Eine Tante väterlicherseits war mit einem adligen, sehr reichen ehemaligen Offizier verheiratet. „Am Kriegsende wurden dem ehemaligen Offizier durch Fremdarbeiter, die er angestellt hatte, sämtliche Orden entrissen, was ihn so sehr verstörte, dass er nicht mehr leben wollte.“ Er beging er erweiterten Suizid und erschoss zuerst seine Frau und dann sich. Leonores Mutter hatte dies, trotz intensiver Bemühungen, nicht verhindern können.
Zu Anfang des 2. Weltkrieges gehörte Leonores Vater zu den ersten, die eingezogen wurden – als Soldat nach Russland. Leonore besuchte von 1942 bis 1944 die Volksschule in Dittersdorf, wuchs in Wohlstand und behütet auf. Auf der Flucht gen Westen, gemeinsam mit ihrer schwerkranken Mutter und ihren Geschwistern, hatte sie bedrohliche, erschütternde Erlebnisse. Diese grauenhaften Bilder haben mich nie losgelassen“ (Qu.[1], S. 47 - 50).
Von Schlesien kam die Familie in den Ort Kirchweilheim, Bezirk Bremen. Nach seiner Rückkehr wurde der Vater zunächst Leiter einer Schulbibliothek. Die unternehmungslustige und eigensinnige Leonore entwickelte sich zu einer Leseratte mit minutiösem Gedächtnis. Sie ging auf die Mädchenoberschule in Verden/Aller und bestand ihr Abitur an der Jungen-Oberschule in Bremen-Walle, die auch ihr älterer Bruder besuchte.
Schon als Schülerin war sie mit einer Freundin – teils heimlich – getrampt, nach Paris, Spanien, Italien. Sie interessierte sich für Kunst und wollte Malerin werden. Der Hinweis ihres Vaters, als Frau bräuchte sie nicht zu studieren, stachelte sie an. Einige ihrer Schulkameraden entschieden sich für das Jurastudium. Auch Leonore interessierte sich dafür, obwohl sie ursprünglich Künstlerin werden wollte. Damals war sie eine der wenigen Frauen, die sich ab 1957 an dieser Fakultät einschrieben. Sie studierte in Hamburg und Heidelberg. Als einzige ihres Jahrgangs schaffte sie beide Examina und übte den Beruf später tatsächlich aus, während die anderen Frauen sich ins Familienleben zurückzogen. Mit Jobs, die zeitig am Morgen vor Beginn der Vorlesungen begannen („ich habe überall gearbeitet, wo man mich ließ“, 1, S. 58) , verdiente sie sich ein Zubrot, um sich Extras zu leisten, wie z.B. einen Motorroller. Zuerst wohnte sie zur Untermiete in Kirchdorf, zog dann ins Univiertel. „Als Leonore eine Zeitlang im Statistischen Bundesamt in Bremen jobbte, erfuhr sie, wer alles vorbestraft war, Leute, von denen sie niemals gedacht hätte, Prominente.“ Die Erfahrungen aus ihren Studi-Jobs haben sie „sehr geprägt. ‚Als ich auf einem Schiff arbeitete, begegnete ich den Hafenarbeitern, die täglich viele Stunden lang schwer schufteten. Ich begriff, dass man von ihnen nicht erwarten konnte, dass sie abends Bücher von Nietzsche lasen.’“ Deshalb erbosten sie sich auch später im Beruf verwöhnte Kommilitonen, „die noch bei ihren Müttern wohnten, brave Söhne waren, in Hamburger Clubs gingen“ und später als Staatsanwälte auf Menschen herabschauten, „die ein einfacheres oder härteres Leben“ hatten (vgl. Qu.[1], S. 59). Gutes Geld verdiente die Studentin Leonore auch mit dem Malen von unsignierten Kopien bekannter Motive in Öl. Viel Zeit gönnte sie ihren künstlerischen Interessen und hielt sich gern in Worpswede auf. [2]
Während des ersten Staatsexamens verliebte sie sich in ihren ersten Mann Klaus Mosel.
Sie arbeitete in dieser Zeit bei der Allianz-Versicherung. In der Abteilung „Todesfälle“ lernte sie viel für ihre zukünftige Arbeit. Im Referendariat erhielt sie sofort dramatische Kriminalfälle bei Staatsanwalt Dr. Wiegand. Und sie erfuhr auch von Ungerechtigkeiten vor Gericht ([1], S. 69/70). In Hamburg gab es eine einzige Anwältin, die sich auf Strafrecht spezialisiert hatte: Tosca Genzmer. „Ich lernte und arbeitete bei ihr und musste unter anderem Mandanten in Gefängnissen aufsuchen.(...) Auch Vertreter der Presse hatten immer gern mit ihr zu tun, denn sie war, wie ihre Mentorin Tosca Genzmer, eine bemerkenswerte Erscheinung in Strafprozessen und deshalb attraktiver zu fotografieren“ ([1], S. 74). Sie arbeitete kurzfristig auch beim Seeamt und wäre gern Seerechtlerin geworden, doch ohne Kapitänspatent hätte sie lediglich ihren Kollegen zuarbeiten dürfen.
Nachdem sie ein Jahr lang in einer Kanzlei angestellt war, machte sie sich als Strafverteidigerin selbstständig und bezog ihr erstes Büro in Öjendorf ([1], S. 77). Eine weitere starke Seite hatte sich in den Examina offenbart: Sie behielt einen klaren Kopf in Prüfungssituationen. Ergänzt durch ihr fotografisches Gedächtnis, ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, eine gehörige Portion Zähigkeit gepaart mit einfühlsamer Toleranz, zeichnete sich ihr ungewöhnlich erfolgreicher beruflicher Aufstieg ab.
Im „verflixten siebten Jahr“ ihrer Ehe trennten sich die Wege. Ihr Unzufriedensein mit dem mangelnden Ehrgeiz ihres Gatten ermutigte diesen dazu, in Rekordzeit ein Jurastudium zu beenden und auch Anwalt zu werden. In der zweiten Ehe mit dem Anwalt Peter Gottschalk wurde 1970 der Son Ilja geboren. Bis zu ihrem Tod lebte sie mit ihrem dritten Ehemann, Laid Frej, in Winterhude. Leonore Gottschalk-Solger hat zwei Kinder: Tochter Katharina Mosel aus erster Ehe ist Anwältin für Erb- und Familienrecht (Kanzlei Linden & Mosel, Köln). Sohn Ilja Gottschalk aus zweiter Ehe ist Geschäftsführer eines Pharma-Vertriebs (gmd-service).
In einer Ära, in der spektakuläre Verbrechen und Strafverfahren von den Printmedien sowie dem Fernsehen ausführlich aufgegriffen und darüber berichtet wurde, wirkte die zierliche, blonde Frau – stets hochwertig, auffallend gekleidet, die im Porsche vorfuhr – ausgesprochen exotisch. Mit ihrer Devise: Ich will vor allem ein faires Verfahren für Alle und wegen ihres zunehmenden Erfolges, war sie bald der Geheimtipp für „besondere Fälle“. Darunter befanden sich: „Der Anlageberater Jürgen Harksen, der viele Menschen um ihr Geld brachte. Gerhard Müller, Baader-Meinhof-Kronzeuge. Lutz R., ‘Säuremörder von Rahlstedt‘, der zwei Frauen tagelang gefoltert und in Salzsäure aufgelöst hat. Der Terrorverdächtige Hamadi. Mafiosi. Zuhälter. Vergewaltiger. Drogenbosse. Leonore Gottschalk-Solger hat sie alle verteidigt“, so schrieb das Hamburger Abendblatt in einem Porträt [3].
Als Leonore Gottschalk-Solger 2009 ihr Buch mit dem Titel „Die Strafverteidigerin“ herausbrachte, schrieb die Presse: „Die 71 Jahre alte Strafverteidigerin mit Gemeinschaftskanzlei an den Colonnaden ist Deutschlands wohl bekannteste Anwältin. Sie sieht sich als Fürsprecherin. ‚Jeder hat das Recht auf einen fairen Prozess.’ Seit 40 Jahren vertritt Gottschalk-Solger die härtesten Verbrecher. Jetzt hat sie ein Buch mit ihren interessantesten Fällen herausgebracht (‚Die Strafverteidigerin’ (…).
In ihrem Büro knallrote Boxhandschuhe neben dem Schreibtisch. Aus Spaß. Denn lachen kann Frau Gottschalk-Solger viel und herzlich. Überhaupt, wer sich klischeehaft eine harte Frau vorstellt, liegt falsch. Leonore Gottschalk-Solger ist Mensch geblieben. Trotz der Abgründe der menschlichen Seele, in die sie oft geblickt hat. ‚In meinem Beruf muss man Menschen mögen. Für alle da sein. Versuchen zu ergründen, was geschehen ist. Egal, ob jemand reich, mittellos oder ein armes Schwein ist. Man muss helfen wollen’, sagt die Frau, die oft mitten in der Nacht von Mandanten angerufen wird, weil sie in Schwierigkeiten stecken. Dann fährt sie los, immer allein. ‚Ich kann genau sagen, auf welcher Polizeiwache es den besten Kaffee gibt.’ Eines hat sie im Laufe der Jahrzehnte gelernt. ‚Ich bin der festen Überzeugung, dass fast jeder einen Mord begehen kann. Es ist eine Glücksfrage, ob man gut durchs Leben kommt.’
Dabei ist diese Frau selbst oft genug in Gefahr. Als sie den RAF-Terroristen verteidigte, stand sie mit ihrer ganzen Familie ein halbes Jahr lang unter Polizeischutz. Sie entging nur knapp dem Tod, als sie in den 90er-Jahren Dieter D. vertrat, der seine Freundin auf deren eigenes Verlangen hin getötet hatte. Nach der Urteilsverkündung erstach ein Bekannter des Opfers den Angeklagten im Gerichtssaal. ‚Es hätte genauso gut mich treffen können. Der Mann hat mich gehasst’, sagt die gebürtige Schlesierin. Solche Ängste schiebt sie weg. ‚Das darf man nicht zulassen’, so die Mutter zweier erwachsener Kinder. Trotzdem ist die Verteidigerin gegen mögliche Angriffe gewappnet. ‚Ich gehe nie ohne Waffe aus dem Haus.’ Sie ist Mitwisserin brisanter Interna in Mafia- und Drogenkreisen. ‚Wenn ich das Buch So war es wirklich geschrieben hätte, wäre ich längst tot’, sagt sie.
So viel Einsatz kann nur bringen, wer in seinem Beruf aufgeht. Ihre Tochter Katharina Mosel, ebenfalls Anwältin, soll früher gesagt haben: ‚Ich muss wohl erst einen Mord begehen, um dich mal zu sehen.’ So selten war Mama zu Hause. Ihre beiden ersten Ehen sind gescheitert: ‚Für viele Männer ist es schwierig, mit einer erfolgreichen Frau zu leben.’ Gerade hatte sie sich mit dem Gedanken angefreundet, Single zu sein, da traf sie ihren heutigen Ehemann. Laid Frej ist 19 Jahre jünger, die Liebe ihres Lebens. ‚Er stand mir sehr zur Seite, als ich schwer an Krebs erkrankte. Er ist beliebt bei allen, würde jedem helfen.’ Wie seine Frau.“[3]
In der Regel traten ihr die Mandanten nicht gegenüber und gaben die Tat zu. Viele verdrängten, was sie getan hatten. Erst spät erkannte die idealistische Frau, dass aus schwarzen Schafen nicht immer weiße Lämmer werden. Mit toleranter Unterstützung ihrer Mutter und ihrer Familie ließ sie auch Straftäter bei sich zu Hause wohnen, in der Hoffnung, ihre Tochter, ihr Sohn könnten ihnen den Weg in eine bessere Einsicht ebnen. Durch Mitgefühl, nicht Mitleid, versuchte sie den Menschen hinter der Tat auszumachen. Auch deshalb hatte sie im Nebenfach Soziologie gewählt. Als die Strafverteidigerin Petra Winderl nach 30 eigenen Berufsjahren 1990 noch ein Praktikum bei Leonore Gottschalk-Solger machte, erkannte sie, dass diese Frau ihr im Gefängnis schon vor 20 Jahren begegnet war, „im schicken Nerzmantel und Stiefeln, mit einem dunkelroten Aktenkoffer – eine Diva“. In den zahlreichen gravierenden Fällen von brutalen Tötungsdelikten und aus dem Sexualstrafrecht dachten und fragten viele: Welch ein furchtbarer Mann! Wie kann man den verteidigen?’ Doch Leonore Gottschalk-Solger dachte „niemals so, das hat mich sehr beeindruckt.“ Sie sah den Menschen dahinter, nicht das „Monster“, wollte alle Tragödien ans Tageslicht befördern ([1], S. 161 f.). So gründete sie die Vereinigung Zuflucht e.V. gemeinsam mit Joachim Ziegenrücker (1912 – 2008), von 1963 bis 1980 Direktor der Evangelischen Akademie in Hamburg, und dem früheren Stern-Redakteur Günther Schwarberg, der immer wieder große Reportagen über die Strafverteidigerin schrieb. Ein Drittel ihrer Arbeit widmete Leonore Gottschalk-Solger „den Menschen, die juristische Hilfe benötigen, weil sie zu Unrecht in Psychiatrien oder Haftanstalten einsaßen, und um die sich keiner mehr kümmerte“ ([1], S. 108).
Gern und oft war sie zu Gast in Talkshows, auf Bällen, Partys, Empfängen. Zeitlebens war sie sportbegeistert, ließ sich in der Kunst des Fechtens unterrichten, schwärmte für den FC St. Pauli und fürs Boxen. Lange vor dem Siegeszug der Gerichtsshows wirkte sie in der Lifesendung „Das Fernsehgericht tagt“ im ZDF mit. Ein besonders gruseliger Fall, der des „Säuremörders Lutz R.“, wurde mit ihrer Beratung – noch während der Prozess lief – vom WDR als Thriller mit dem Titel „Angst hat eine kalte Hand“ verfilmt. In den Hauptrollen spielten Cornelia Froboess, Katja Riemann und Udo Samel ([1], S. 191 sowie [4]).

4358 Grab Gottschalk Solger
Grab Leonore Gottschalk-Solger, Quelle: kulturkarte.de/schirmer

Mit 80 Jahren verstarb die „Star-Anwältin“ nach schwerer Krankheit. Noch Anfang der 1990er-Jahre war sie zwischen Bestrahlungen im UKE und als Verteidigerin in dem mysteriösen Indizienprozess „Mord ohne Leiche“ in Lübeck hin- und hergependelt ([1], s. 162). Die Trauerfeier fand am 11. November 2016 auf dem Öjendorfer Friedhof statt [5].
Text: Dr. Cornelia Göksu