Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Semra Ertan

(31.5.1956 Mersin/Türkei – 26.5.1982 Hamburg)
Lyrikerin
Ecke Simon-von-Utrecht-Straße/Detlev-Bremer-Straße: Platz der Selbstverbrennung
bestattet in Mersin


Semra Ertan wurde am 31.5.1956 in Mersin, Türkei, geboren und kam 1972 im Alter von 15 Jahren mit ihren sechs Schwestern nach Deutschland, weil ihre Eltern Gani Bilir und Vehbiye Bilir hier als ausländische Arbeiter lebten.[1] Sie arbeitete als Dolmetscherin und technische Bauzeichnerin, betätigte sich politisch gegen Rassismus und für Frauenrechte. Aus Protest gegen die Ausländerdiskriminierung verbrannte sie sich am 24.5.1982 öffentlich und starb zwei Tage später an den schweren Verbrennungen.
Semra Ertan war Lyrikerin und schrieb mehr als 350 Gedichte.[2] Die meisten thematisieren die Lebenswelt von Migrantinnen und Migranten in Deutschland.
Der alltägliche Rassismus setzte der sensiblen Semra Ertan psychisch zu. Aus Protest hatte sie schon Selbsttötungsversuche unternommen und Hungerstreiks durchgeführt. Am 23.5.1982 kündigte Semra Ertan ihren Freitod in Anrufen an den NDR und das ZDF an und forderte: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern, dass sie auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden.“
Sie trug bei der Ankündigung ihres Freitodes im NDR ihr Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ aus dem Jahre 1981 vor:
Ich arbeite hier
Ich weiß wie ich arbeite
Die Deutschen wissen es auch
Meine Arbeit ist schwer
Meine Arbeit ist schmutzig
Das gefällt mir nicht, sage ich

„Wenn dir die Arbeit nicht gefällt,
gehe in deine Heimat“ sagen sie

Meine Arbeit ist schwer
Meine Arbeit ist schmutzig
Mein Lohn ist gering
Auch ich zahle Steuern sage ich

Ich werde es immer wieder sagen
Wenn ich immer wieder hören muss
„Suche dir eine andere Arbeit“
Aber die Schuld liegt nicht bei den Deutschen
Liegt nicht bei den Türken

Die Türkei braucht Devisen
Deutschland Arbeitskräfte
Die Türkei hat uns nach Europa geschickt
Wie Stiefkinder
Wie unbrauchbare Menschen
Aber dennoch braucht sie Devisen
Braucht sie Ruhe

Mein Land hat mich ins Ausland geschickt
Mein Name ist Ausländer[3]

Semra Ertans Nichte Cana Bilir-Meier hat 2013 die zugänglichen Archivquellen über das Leben ihrer Tante, die sie selbst nicht kennengelernt hatte, recherchiert: „Im Radiobericht wird auch eine Aufnahme des NDR von 1982 abgespielt: In einem Anruf an den Sender spricht Semra Ertan das Gedicht ‚Mein Name ist Ausländer‘ und kündigt ihren Tod an. Es klingt nicht wie ein Gedicht, es ist mehr ein Manifest oder ein wütendes Statement.“[4]
Ihren letzten Lebensabend verbrachte Semra Ertan im Zentrum des sozialdemokratischen türkischen Vereins HDF in Hamburg und las aus ihren Gedichten vor. Gegen 1:20 Uhr verließ sie das Lokal. Um 5 Uhr morgens kaufte sie an einer Tankstelle fünf Liter Benzin und steckte sich damit kurze Zeit später an der Ecke Simon-von-Utrecht-Straße und Detlev-Bremer-Straße in Hamburg selbst in Brand.
St. Pauli. in Brand. Polizeibeamte versuchten noch, die Flammen mit Decken zu ersticken. Aber Semra Ertans Haut war zu sehr geschädigt, so dass sie nach zweitägigem Koma im Krankenhaus verstarb.
In Hamburg fand zwar am 2.6.1982 aus Anlass ihres Todes eine Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit mit 5.000 Teilnehmenden statt, aber insgesamt ist ihr Andenken bei Deutschen in Hamburg heute verblasst. Dagegen wissen die meisten hier lebenden Türkinnen und Türken über Semra Ertan Bescheid. In der Türkei wurden ihre Gedichte in Schulbüchern abgedruckt.
1982 schrieb der deutsche Komponist Enjott Scheider „Semra Ertan“, ein Adagio und Scherzo für ein Oktett. 2013 erstellte Semra Ertans Nichte Cana Bilir-Meier eine filmische Kurzdokumentation über ihre Tante.
Der bekannte Enthüllungsjournalist Günter Wallraff widmete 1985 u. a. Semra Ertan sein Buch „Ganz unten“, das beschrieb, wie es ihm als verkleideten „Türken Ali“ in der deutschen Arbeitswelt ergangen war: „Ich weiß inzwischen immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Lande gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer Demokratie. … Ich habe in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.“[5]
2018 gründete sich eine Initiative „Gedenken an Semra Ertan“, die eine Gedenktafel und die Benennung einer Straße nach Semra Ertan fordert. An Semra Ertans 37. Todestag am 26.5.2019 fand eine Gedenkfeier am Ort der Selbstverbrennung statt, die sie in eine lange Reihe von Opfern ausländerfeindlicher Gewalt in Hamburg und Deutschland einreihte, darunter das NSU-Mordopfer Süleyman Taşköprü aus Hamburg-Bahrenfeld im Jahr 2001, Ramazan Avci, der 1985 von rechten Skinheads vor ein fahrendes Auto getrieben und erschlagen wurde sowie Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, die 1980 bei einem Brandanschlag der rechtsterroristischen „Deutschen Aktionsgruppen“ in der Halskestraße in Hamburg-Billwerder ums Leben kamen.
Text: Ingo Böhle