Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Dorothea Buck

(5.4.1917 Naumburg a. d. Saale – 9.10.2019 Hamburg)
Opfer des Nationalsozialismus, zwangssterilisiert, Gründerin des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener, Bildhauerin. Lehrerin, Mitbegründerin des Bundes der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten e.V.
Hofweg 7 (Wohnadresse in den 1950er-Jahren)
Brummerskamp 4 (Wohnadresse ab 1962)
Wagnerstraße 60 (Wirkungsstätte als Lehrerin an der Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik)
Dorothea-Buck-Straße, Farmsen-Berne (2022) und Dorothea-Buck-Park, Schnelsen (2022)


Dorothea Buck wurde am 05.04.1917 in Naumburg a. d. Saale als viertes von fünf Kindern geboren und wuchs dort in einer Pastorenfamilie auf.[1] Dorothea Buck schloss ihre Schulbildung mit der Mittleren Reife ab und besuchte danach die Frauenfach-Schule in Friedrichshafen, um sich auf den Beruf der Kindergärtnerin vorzubereiten. Schon in jungen Jahren wollte sie Kindergärtnerin werden und später selbstverständlich auch eigene Kinder haben.
Sie war 19 Jahre alt, als sie die erste Psychose erlebte. Sie sei davon überzeugt gewesen, dass es Krieg geben würde, dass sie einmal etwas zu sagen haben würde und die Braut Christi sei. Der Hamburger taz berichtete sie: „Braut Christi, das haben ja viele Betroffene, viele Verrückte haben religiöse Erfahrungen.“ Nach diesem ersten Schub gaben ihre Eltern Dorothea Buck in die von Theologen geleiteten Bodelschwinghschen Anstalten nach Bethel bei Bielefeld. Ihre Eltern sprachen mit ihr nicht über die psychische Erkrankung, was laut Alexandra Pohlmeier, einer guten Freundin und Filmemacherin, die 2008 eine Dokumentation über Dorothea Buck produzierte, „das einzige [war], womit sie sich nicht hat aussöhnen können.“
Die Behandlung der schizophrenen Patientin verlief unmenschlich und völlig kontraproduktiv. Dorothea Buck schilderte; „Mit dem ‚Königreich Gottes‘ wird Bodelschwingh seine Anstalt Bethel gemeint haben. Darum tragen alle Betheler Häuser biblische Namen. Auch die Wände der Krankensäle trugen Bibelsprüche. Als ich 1936 mit gerade 19 Jahren in Bethel eingewiesen wurde, stand auf der hellgrünen Wand meinem Bett gegenüber in großer Schrift das Jesuswort ‚Kommet her zu mir, Alle, die Ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken.‘ Aber was waren das für ‚Erquickungen‘ mit Kaltwasserkopfgüssen, Dauerbädern unter einer Segeltuchplane, in deren steifem Stehkragen mein Hals 23 Stunden – von einer Visite zur nächsten – eingeschlossen war. Mit der Fesselung in nassen kalten Tüchern, die sich durch die Körperwärme erhitzten. Diese quälenden ‚Beruhigungsmaßnahmen‘ unter dem Jesuswort an der Wand gegen unsere nur natürliche Unruhe, die wir viele Wochen lang untätig in den Betten liegen mussten, obwohl wir körperlich gesund waren, konnten wir nur als sträfliches Missverständnis der christlichen Lehre, als Zynismus oder sogar als ‚Hölle unter Bibelworten‘ verstehen.“[2] Unter den Patienten waren Gespräche verboten und die Ärzte selbst sprachen erst nach einem Dreivierteljahr mit Dorothea Buck.
Aufgrund des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde Dorothea Buck am 18.09.1936 in Bethel zwangssterilisiert. Die Eltern waren vor die Entscheidung gestellt worden, der Zwangssterilisation zuzustimmen. Anderenfalls hätte Dorothea Buck nach ärztlicher Entscheidung in den Bodelschwinghschen Anstalten bis zu ihrem 45. Lebensjahr, also bis zur angenommenen natürlichen Geburtsunfähigkeit, verbleiben müssen.
Die Ärzte täuschten Dorothea Buck gegenüber die Operation als Blinddarmentfernung vor. Sie erfuhr erst durch eine Mitpatientin von der Sterilisation. Damit waren ihre Träume nach eigenen Kindern und der Erfüllung des Berufswunschs Kindergärtnerin geplatzt. Nach NS-Recht durften Zwangssterilisierte nur ihresgleichen heiraten und keine sozialen Berufe ausüben.[3] Sie fand für sich selbst Trost in dem Gedanken, die „Freiheit zum Selbstmord“ zu haben.[4]
1937 erlernte Dorothea Buck das Töpferhandwerk und von 1938 bis-1939 absolvierte sie eine Organisten-Ausbildung in Hahnenklee/Harz. 1941 besuchte sie die Frauenkunstschule des Verbandes der Gemeinschaft der Künstlerinnen und Kunstfördernden e.V. (GEDOK) in Berlin und ab 1942 die private Städel-Kunstschule in Frankfurt/Main. Dabei verschwieg sie den Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt und die Zwangssterilisation, weil Sterilisierten in der NS-Zeit kein Zugang zu höherer Bildung gewährt wurde.
1943 wurde Dorothea Buck erneut in der Uniklinik Frankfurt/Main behandelt. Dort erfuhr sie von der systematischen Mordaktion des NS-Regimes an psychisch Erkrankten.
Dorothea Buck überlebte das NS-Regime. 1950 ging sie nach Empfertshausen (Thüringen), um als Voraussetzung für ein Kunststudium den Gesellenbrief als Holzbildhauerin zu erwerben. 1952-59 studierte sie an der Kunsthochschule in Hamburg. Danach arbeitete Dorothea Buck als Bildhauerin und war von 1969 bis 1982 als Lehrerin für Kunst und Werken an der Hamburger Fachschule für Sozialpädagogik I in der Wagnerstr. tätig.
Sie beendete ihre künstlerischen Aktivitäten wegen ihres Engagements in der Psychiatriebetroffenen-Bewegung und der Aufklärungsarbeit über die Psychiatrieverbrechen im NS-Regime: „Seit dem Ende der 50er Jahre arbeitete ich als Bildhauerin an öffentlichen Aufträgen, die nur durch Wettbewerbe zu gewinnen waren und hätte meine ungeteilte Aufmerksamkeit für meine Arbeit gebraucht. Doch die verdrängten Patientenmorde und die Unmenschlichkeit unserer Anstalten beeindruckten mich so tief, dass es mich immer wieder von der künstlerischen Arbeit weg an die Schreibmaschine drängte. In meiner künstlerischen Arbeit ging es mir um die Beziehungen der Formen und Gestalten zueinander; die Beziehungslosigkeit der Psychiater zu ihren Patienten widersprach allem Menschlichen, ohne das es für mich keine Kunst geben kann.“[5]
Danach setzte Dorothea Buck sich vor allem für eine verständigere und menschlichere Psychiatrie ein. Ausgangspunkt waren ihre eigenen Erfahrungen aus fünf schizophrenen Psychosen und deren stationären Behandlungen in den Jahren 1936–59. Zusammen mit Prof. Thomas Bock vom Hamburger UKE entwickelte sie die Einrichtung von Psychoseseminaren, in denen Patientinnen und Patienten, Angehörige und in der Psychiatrie Beschäftigte gleichberechtigt in den Erfahrungsaustausch über psychiatrische Erkrankungen treten (Trialog). Heute wird dieser Trialog von der führenden psychiatrischen Fachgesellschaft als State of the Art anerkannt.[6] 1992 gründete Dorothea Buck mit anderen Betroffenen den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Sie blieb bis zu ihrem Tod Ehrenvorsitzende des Verbandes.
1987 begründete Dorothea mit anderen den „Bund der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten e.V. Sie trug mit dazu bei, dass diese Opfergruppe des Nationalsozialismus vor dem Vergessen bewahrt worden ist. Dabei erinnerte sie an die Kontinuitätslinien der an den NS-Verbrechen beteiligten Eliten in der Bundesrepublik Deutschland und auch der DDR: „Dass aber 63 Jahre seit dem Ende des NS-Regimes 1945 vergehen mussten, um an die offiziell verschwiegenen und ausgegrenzten Opfer der Ausrottungsmaßnahmen erinnern zu können, liegt an der großen Täter- und Mittäterschaft der Psychiater, Theologen, aller höchsten Juristen, der Gesundheitsbehörden und Ministerien.“[7] Sie schrieb ein Theaterstück über den hunderttausendfachen Mord an psychisch Kranken und Behinderten in der NS-Zeit. Ihre Skulptur „Mutter und Kind“ steht vor einer Schule in Hamburg-Wandsbek.

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Bronze "Mutter und Kind", geschaffen 1964 von Dorothea Buck, aufgestellt im Innenhof der Schule An der Gartenstadt in Hamburg, vor dem Verwaltungstrakt. Foto: kulturkarte.de/schirmer

1990 veröffentlichte Dorothea Buck unter dem Pseudonym Sophie Zerchin, einem Anagramm des Wortes Schizophrenie, ihre Autobiographie „Auf der Spur des Morgensterns“. Später erfolgten weitere Veröffentlichungen mit ausgewählten Texten und Schriften.
Erst spät wurde Dorothea Buck auch von offizieller Seite geehrt. Sie erhielt das Bundesverdienstkreuz erster Klasse 1997 und 2008 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. 2017 würdigte der Hamburger Senat ihr Lebenswerk mit der Medaille für Treue Arbeit im Dienste des Volkes in Silber.
Seit 1996 ist ein Wohnangebot für Menschen mit psychischer Erkrankung in Bottrop nach ihr benannt. Auf deren Website heißt es: „Für Dorothea Buck sind das Verstehen der Krankheit, die Suche nach dem Sinn der Krankheit sowie die Begegnung auf Augenhöhe elementare Grundsätze für das Gelingen der helfenden Beziehung mit psychisch erkrankten Menschen. Dazu gehören das Unterstützen bei der Erkrankung und ihren Folgen, die therapeutische sowie die medizinische Begleitung, das Entwickeln von neuen Lebensperspektiven und das Stärken der Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit.“[8]
Dorothea Buck errichtete 2011 mit ihrem geerbten kleinen Vermögen die Dorothea-Buck-Stiftung, um ihr Engagement für eine menschlichere Psychiatrie über ihr eigenes Wirken hinaus fortzusetzen. Die Stiftung unterstützt Psychiatrie-Erfahrene, eine EX-IN-Ausbildung (Experienced Involvement) zu machen, um damit als so genannter Peer, also selbst Betroffener, in der psychiatrischen Versorgung zu arbeiten.[9]
Zu Ihrem 99. Geburtstag schrieb ihre Freundin Brigitte Siebrasse eine Hommage über Dorothea Buck: „Dorothea, die ja auch Pädagogin war, liebt (bis heute) das Monologisieren und schuf immer auch eine Atmosphäre direkter Ansprache. Pointen quittierte sie mit Gelächter. Da war sie immer das große Kind. Doch das Gründliche, Feierliche und Schwerfällige, Pathos und Monumentalität versucht sie zu verweigern. Sie verbindet Gewissenserforschung mit Charme, harte Anklage mit Freundlichkeit. Dorothea Buck ist wohl auch irgendwo in ihrem Wesen eine protestantische Anarchistin – und denkt nicht daran, das zu verheimlichen. Aber das Kindliche als Teil ihrer Persönlichkeit ist bis heute geblieben. … Dorothea ist die Ausnahmeerscheinung im sozialpsychiatrischen Gefüge. Alle Menschen begegnen ihr mit Respekt und Herzlichkeit, auch die Profis. Und selbst wenn die Profis sich manchmal über sie ärgern – Dorothea hat bei allen Kredit. Ihre Korrespondenzen mit Politikern, Psychiatern, evangelischen Kirchenfürsten füllen Aktenordner. Gelegentlich ausbleibende Antworten beirrten sie nicht, Risikobereitschaft muss sie mit auf die Welt gebracht haben. Sie ist ein intellektueller Instinktmensch und in ihrem persönlichen Lebensbereich erstaunlich bescheiden und genügsam. Kein Luxus, einfaches, gesundes Essen, keine Ausschweifungen. Dafür ein selbst angelegter Blumengarten.“[10]
Dorothea Buck verbrachte ihre letzten Lebensjahre im „betreuten Wohnen“ des Hamburger Albertinen-Hauses. Sie wollte dort „das Lesen nachholen und ausruhen“. Zur Feier ihres 100. Geburtstages fand 2017 ein wissenschaftliches Symposium unter dem Titel „Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde + Menschenrechte in der Psychiatrie“ statt, zu der Dorothea Buck per Skype aus dem Albertinen-Haus zugeschaltet wurde. Am 09.10.2019 ist Dorothea Buck verstorben.
Autor: Ingo Böhle