Gerda Freise
(29.4.1919 Düsseldorf – 11.7.2007 Göttingen)
Chemikerin, kritische Naturwissenschaftsdidaktikerin, Lehrstuhl Erziehungswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Chemie" an der Universität Hamburg
Von-Melle-Park 8 (Wirkungsstätte)
Gerda Freise wurde 1919 als zweites von drei Kindern eines Lehrerehepaares in Düsseldorf geboren.[1] Die Eltern standen der Reformpädagogik nahe und blieben dieser auch während der NS-Zeit verpflichtet. Ihr Elternhaus war antinazistisch eingestellt und hielt Kontakt zum jüdischen und kommunistischen Freundeskreis. 1938 machte Gerda Freise ihr Abitur und entschied sich zunächst gegen ein Pädagogik-Studium, da die Eltern ihr vom Beruf einer Lehrerin unter dem NS-Regime abrieten. Stattdessen studierte sie in München die vermeintlich unpolitische Chemie bei dem Nobelpreisträger Prof. Heinrich Wieland.
Wieland war bekannt für seine antinationalsozialistische Gesinnung. So genannte Halbjuden konnten an seinem Institut noch studieren und auch Laborantenstellen wurden bevorzugt an solche vergeben, da sie beruflich nirgends eine berufliche Chance in Deutschland gehabt hätten. Gerda Freise schilderte: „Nach 1940 wurde unter uns davon gesprochen, daß manche der ‚halbjüdischen‘ Studenten keine Studienerlaubnis mehr bekamen, daß sie dann aber in den Geschäftsbüchern als ‚Gäste des Geheimrats‘ geführt und privat versichert illegal weiterstudieren und wie ordentlich eingeschriebene Studenten auch Examina ablegen konnten. Das bestandene Examen wurde von Wieland auf einem einfachen Stück Papier bescheinigt und mit der Bemerkung überreicht, man werde es ‚dann später legalisieren‘. Erst nach dem Krieg erfuhr ich außerdem von dem Fall eines Kommilitonen, der überhaupt nie zum Studium zugelassen gewesen war, der aber dennoch wie jeder andere seine Diplomprüfung ablegte, wobei außer Wieland und dem Kandidaten keiner – auch nicht die anderen Prüfer – den wahren Sachverhalt kannte.“[2]
Gerda Freises Kommilitone, Hans Leipelt, wurde 1943 als letztes Mitglied der „Weißen Rose“ verhaftet und vor Gericht gestellt. Gerda Freise und Wieland sagten als Entlastungszeugen für Leipelt aus, ohne allerdings das ohnehin feststehende Todesurteil abwenden zu können.
Wieland betrieb seinen Widerstand gegen das NS-Regime auch mit einer gewissen Camouflage: „Wichtig war außerdem, daß Wieland mit dem Etikett ‚kriegswichtig‘ viele Studenten vor der Ferienarbeit in Rüstungsbetrieben oder vor der Wiedereinberufung nach einem Studienurlaub bewahrte. Noch heute mutet mich die Etikettierung unserer wahrhaft marginalen Diplomarbeiten als ‚kriegswichtig‘ komisch an.“[3] Für Gerda Freise wurde Wielands Unabhängigkeit des Denkens und Urteilens zum lebenslänglichen Vorbild: „Ich denke, ich lernte zu verstehen, daß ich selbst mich jeweils neu bemühen müßte, Zusammenhänge zu erkennen und aufzuklären, um zu einem eigenen Urteil kommen zu können. Ich lernte auch, daß es möglich ist – und um der Erhaltung des eigenen Selbstverständnisses und der Selbstachtung willen auch Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus notwendig ist – Widersprüche zu ertragen und in einer andersdenkenden Mehrheit abweichende Urteile und abweichendes Verhalten zu wagen, wenn die Verhältnisse es erfordern. In was für einer Universität, in was für einem Land hätten wir studiert und gelebt, wenn mehr Professoren den Mut zu Heinrich Wielands Begriffen von Autonomie, Loyalität und Solidarität und den Mut zu seinem Verständnis von politischer und moralischer Verantwortung gehabt hätten?“[4]
Gerda Freises Erfahrungen in der NS-Zeit motivierten sie später die Rolle der Naturwissenschaftler im Nationalsozialismus wissenschaftlich mit aufzuarbeiten.[5] Auch in der Filmdokumentation „Die Widerständigen: Also machen wir das weiter“ über die „Weiße Rose“, der erst 2015 nach Gerda Freises Tod fertig gestellt wurde, wirkte sie als Zeitzeugin mit.[6]
Gerda Freise heiratete 1945 ihren „halbjüdischen“ Kommilitonen Valentin Freise, der mit Hans Leipelt im Volksgerichtsprozess 1944 angeklagt und zu einem Jahr Haft verurteilt worden war, und bekam drei Töchter.
Gerda Freise schloss ihr Studium 1947 mit einer Promotion ab und arbeitete wissenschaftlich als Chemikerin. Bis 1950 war sie als Assistentin an der Universität Bonn, danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin ihres Mannes, der nach ihr promoviert hatte, am Max-Planck-Institut für physikalische Chemie in Göttingen tätig. Sie bemerkte im Laufe der Jahre allerdings, dass ihre Arbeit unbefriedigend war, „… weil ich an ihrer Planung und Gestaltung keinen Anteil hatte, sondern nur an ihrer quasi handwerklichen Durchführung. … Immer häufiger stellte ich mir jedenfalls die Frage nach dem Sinn meiner Arbeit als Chemikerin. Ich war auf die Suche nach einer selbständigen und selbstverantwortlichen Tätigkeit gegangen und hatte entdeckt, daß ich diese nicht in einem chemischen Labor finden würde.“[7]
1960 ließ sich Gerda Freise scheiden und entschloss sich zu einem Pädagogik-Studium. Damit kehrte sie zu ihrem eigentlichen Berufswunsch nach dem Abitur zurück, aber: „Mein Entschluß hatte sicher auch mit meiner persönlichen Situation in dieser Zeit zu tun: ich hatte drei kleine Kinder, war ökonomisch und in meiner Lebensgestaltung völlig abhängig und entwickelte mehr und mehr den Willen, meine Situation zu verändern. Mein Entschluß war daher auch pragmatisch: das Studium würde wegen der vorangegangenen Studien nur 4 Semester dauern. Ich würde danach sicher eine Stelle als Lehrerin finden usw.“[8]
Gerda Freise studierte zwei Jahre Pädagogik in Heidelberg und arbeitete vier Jahre als Volksschullehrerin. Wegen des Aufschwungs des Fachs Didaktik an den bundesdeutschen Hochschulen und mangels des Interesses und der formalen Qualifikation männlicher Bewerber erhielt Gerda Freise 1966 eine Dozentur für Chemie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von 1974 bis zu ihrer Emeritierung 1984 hielt sie einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg inne.
Gerda Freise half die Fachdidaktik der Naturwissenschaften zu verbessern. Ihr Vortrag aus dem Jahr 1980 für die Zukunft der Fachdidaktiker der Chemie und Physik unter dem programmatischen Titel „ Das Leben – die Naturwissenschaften – die Schüler“ ist sicherlich ihr Hauptwerk.
Sie hielt die bisher geltende Darstellung der Naturwissenschaften in der Schule für grundlegend falsch. Wissenschaft erscheine danach als fertiges, abgeschlossenes System von Wissen in den Lehrbüchern und Lehrplänen. Sie wollte dagegen Naturwissenschaften als einen lebendigen Prozess mit stetigen Entwicklungen, der neben den fachlichen auch politischen und wirtschaftlichen Einflüssen ausgesetzt war, vermitteln. Ergebnis dieses Prozesses sei eine durch Naturwissenschaften und ihre technische Umsetzung veränderte Natur.
„Chemie ist Werkzeug in der Hand der Menschen, die mit der Natur als ihrem Objekt experimentieren ¬– dieser didaktisch bislang nicht oder kaum beachtete Gesichtspunkt ist von zentraler Bedeutung und in dieser Unterrichtskonzeption unverzichtbar. ‚Experimente mit der Natur‘ sind geplante oder ungeplante oder auch fahrlässige Veränderungen der Natur (wobei mit „Natur“ hier in einem weiten Sinn auch die Wirklichkeit der durch Jahrhunderte oder Jahrzehnte veränderten sogenannten ‚natürlichen Umwelt‘ gemeint ist). Die chemische Produktion, die Kernchemie und Genchemie, der weltweite Einsatz chlorierter Kohlenwasserstoffe, die chemisch betriebene Landwirtschaft, die Atombombenversuche im Pazifik ebenso wie die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die Entlaubung Vietnams und das Unglück von Seveso – das alles sind Beispiele, für die ganz analog gilt, was B. Ulrich bezogen auf das Waldsterben sagt: ‚Die Veränderung des „chemischen Klimas“ durch Luftverunreinigungen stellt ein hemisphärisches oder gar globales Experiment mit der Ökosphäre dar.‘ “[9]
Schüler sollten lernen, die Veränderungen der Natur zu verstehen, und sie nicht kritiklos als Sachzwang oder Alternativlosigkeit anzuerkennen. Schüler sollten befähigt werden, aktiv an demokratischen Entscheidungen mitarbeiten zu können, die die Natur veränderten.
Dabei wandte sie sich auch gegen das „Fachchinesisch“: „Die Sonder-oder Expertensprachen sind Herrschaftsinstrumente, mit denen – so muß man annehmen – eben auch verhindert werden soll oder kann, daß die Öffentlichkeit das in ihnen ausgedrückte Wissen wirklich versteht. Es handelt sich hierbei nicht um ein Problem der Naturwissenschaften oder der Technik, sondern um das politische Problem der öffentlichen Kontrolle, das gelöst werden muß. Hauptproblem der Didaktik muß es daher sein, die entmündigende Funktion der Fachsprachen allgemein erkennen zu lassen. Das heißt: Es muß eine Erziehung zum Fragen, zum Insistieren auf Antwort stattfinden. Die Schüler müssen lernen, den Anspruch auf verstehbare Antworten geltend zu machen, um aus Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit herauszukommen.“[10]
„Die Lehrer können in dieser Situation nicht länger die sein, die auf jede Frage ‚die richtige Antwort‘ wissen, und die Schüler können nicht länger die sein, die Lehrerantworten nur konsumieren, bis zum nächsten Test speichern, um sie dann gegen Zensuren einzutauschen und danach wieder zu vergessen.“[11]
Gerda Freise setzte auf projektorientierten interdisziplinären Unterricht, in dem Schüler eigene Erfahrungen sammeln und so ihre Fähigkeiten zur selbständigen Problemlösung und Systematisierung des angesammelten Wissens entwickeln sollten.
„In vielen Experimentalprogrammen von Schulbuchautoren oder der Lehrmittelindustrie haben Schülerversuche nicht einmal demonstrierenden Charakter, sie sind lediglich Übungen, ohne Frage-, Handlungs- und Interpretationsspielräume – idiotensicher. Sie stehen im eklatanten Widerspruch zu der in der ungebrochenen Tradition stehenden Phrase von der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode und Denkschulung im Unterricht der Naturwissenschaften.“[12]
„Ich meine, daß ganz allgemein von ‚Experimenten‘ immer dann gesprochen werden kann, wenn Schüler (ebenso wie andere Lerner und auch Wissenschaftler) nach Antworten auf ernsthafte, offene, nicht schon beantwortete Fragen oder nach Lösungen für offene, nicht schon gelöste Probleme suchen. Wenn sie bei der Suche nach Antworten oder Lösungen ‚experimentell‘ tätig werden, so schließt das alle Tätigkeiten ein, die dabei als sinnvoll erachtet werden:
- Nachdenken und Sprechen über Sachverhalte, Fragen und Probleme,
- Planen von Vorgehensweisen und Arbeitsschritten,
- Beschaffen und Auswerten von oft widersprüchlichen Informationen, Daten, Meßergebnissen, Expertenaussagen usw. (hierher gehören auch eigene chemische Versuche, Umgehen mit Chemikalien und Meßgeräten, je nach den Erfordernissen),
- Durchführen von Interviews,
- Wertung und Beurteilung von Aussagen zur Legitimation von Sachverhalten und Entscheidungen,
- Diskussion von Widersprüchen, Interessen, Machtfragen,
- Offenlegen von Prämissen, die möglichen (alternativen) Antworten und Lösungsvorschlägen zugrunde gelegt werden,
- Probehandeln in Rollen-und Entscheidungsspielen,
- Formulieren, Revidieren und Umformulieren von Antworten und Lösungsvorschlägen, die am Ende eines Unterrichtsabschnittes nicht als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern als offen bleibend, als unter bestimmten Bedingungen akzeptabel oder als nicht akzeptabel anerkannt werden.
Mit diesem Experimentbegriff werden Aufklärung, zunehmende Klarheit, Horizonterweiterung angestrebt, wird aber nicht ‚Sicherheit‘ versprochen. Er steht damit im Gegensatz zum Experimentbegriff in der kritisierten naturwissenschaftlichen Unterrichtstradition, der im Rahmen der Disziplin-immanenten Theorien immer ‚sichere Ergebnisse‘ garantiert und gegebenenfalls von Schülern vorgelegte abweichende Ergebnisse als ‚falsch‘ und als zu sanktionierendes Versagen auffaßt.“[13]
Gerda Freise fasste zusammen: „Es ging uns um eine radikale Veränderung des naturwissenschaftlichen Unterrichts, um Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung. Wir stellten nicht nur die traditionellen Schulfächer in Frage, forderten nicht nur deren Integration, sondern versuchten, einen gesellschaftskritischen, schülerzentrierten naturwissenschaftlichen Unterricht zu konzipieren und für diesen zu werben.“[14]
Gerda Freises Ansicht stieß bei der großen Mehrheit der Fachdidaktiker ihrer Zeit auf Ablehnung. Diese ausgebildeten Naturwissenschaftler verstanden sich als Vertreter ihres Fachs und der herkömmlichen Didaktik. „Diesen frechen Angriff einer Frau, noch dazu einer Seiteneinsteigerin in die Fachdidaktik, konnte die konservative, männliche community nicht ungestraft lassen,“ beschrieben anlässlich ihres 70. Geburtstages ihre wissenschaftlichen Mitstreiter in den 1990-er Jahren den erbitterten Kampf der etablierten Fachdidaktiker gegen Gerda Freise.[15] Gerda Freise hat dagegen „… ihre Fachsozialisation als Chemikerin eigensinnig verarbeitet und eine eigenwillige Verbindung von kritischer Erziehungswissenschaft und naturwissenschaftlicher Fachdidaktik entwickelt.“[16]
Ihre Kurzbiographin Barbara Schenk sieht sie als Solitär: „… Gerda Freise hat keine fachdidaktische oder pädagogische ‚Schule‘ begründet. Gerda Freise beteiligt sich nicht an Machtkämpfen, sucht weder für sich noch für die, mit denen sie arbeitet, Positionen in den Zünften der Fachdidaktiker und Erziehungswissenschaftler. Sie arbeitet fördernd und lernend mit Pädagogen, die wie sie eigensinnige Wege suchen, um die nachwachsende Generation im ‚Handeln im Lernbereich Natur‘ zu unterstützen.“[17]
Nach ihrer Emeritierung 1984 befasste sich Gerda Freise mit der „Frauenfrage“ in den Naturwissenschaften und kritisierte die „männliche Wissenschaft“. Besonders kritisch sah sie die moderne Reproduktionstechnologie, und hatte Sorge, „daß hier erneut eine Grenzüberschreitung der männlichen Omnipotenzphantasien in den Naturwissenschaften vorliege, die mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Menschheit verbunden sein könnten.“[18]
Gerda Freise ist am 11.07.2007 in Göttingen gestorben.
Die Proterra Project Cooperation e. V. hat 2007 den Internationalen Club Gerda Freise gegründet. Die Mitglieder arbeiten an internationalen Projekten für nachhaltige Entwicklung in Europa und Jugendkooperationen mit Afrika.[19]
Text: Ingo Böhle