Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Ingeborg Hecht Ingeborg Hecht, verheiratete Studniczka

(1.4.1921 Hamburg – 6.5.2011 Staufen)
Verfolgte des NS-Regimes, Schriftstellerin, Zeitzeugin in Schulen
Frauenthal 7 (Wohnadresse)
Hochallee 73 (Wohnadresse)
Hagedornstraße 27 (Wohnadresse)
Hansasstraße 27 (Wohnadresse)


Ingeborg Hecht wurde am 01.04.1921 in Hamburg geboren.[1] Sie war das erste Kind einer nichtjüdischen Mutter, Edith Hecht, und eines jüdischen Vater, dem Rechtsanwalt Felix Hecht. Der Bruder Wolfgang wurde 1923 geboren.
Anfangs wohnte die Familie in der elterlichen Gründerzeit-Villa im Frauenthal 7. Der Vater von Felix Hecht war ein renommierter und vermögender Kunsthändler mit Firmensitz in den noblen Collonaden 35. Felix Hecht erwarb 1927 aus dem vorzeitig ausbezahlten Erbe ein eigenes Haus in der Hochallee 73. Ingeborg Hecht und ihr Bruder spielten im nahe gelegenen Innocentiapark. Sie besuchte eine private Realschule für Mädchen am Mittelweg.
Es gab im Elternhaus keine jüdische Erziehung. „Wir waren Kinder zweier Konfessionen, und man wollte uns eines Tages die unsere selbst wählen lassen. Von der jüdischen erzählte man uns aber nichts, das war wohl eine der Maßnahmen für die Assimilierung, die die meisten Westjuden anstrebten.“[2] Felix Hecht blieb allerdings Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg.
1933 ließen sich die Eltern in beiderseitigem Einvernehmen scheiden. „Die Scheidung hatte nichts zu tun mit dem politischen und menschlichen Unheil, das da aufzog. Daß die Eltern aus ganz persönlichen Gründen, wirklich im Guten und ohne einen uns Kindern je offenkundig gewordenen Streit auseinandergingen, hat meine Mutter durch Tapferkeit, Zivilcourage und später unter Gefahr für das eigene Leben nachhaltig beweisen können.“[3] Die Familie wohnte zunächst auch weiter zusammen in der Hochallee 73.
Ingeborg Hechts erste Begegnung mit den Nationalsozialisten war am 01.04.1933, dem Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte in Deutschland. Sie ging trotzdem in das jüdische Süßwarengeschäft und bekam von den Ladenbesitzern für ihren Mut und Beistand zusätzlich zum Kauf auch noch Marzipan geschenkt.
Die Familie geriet wegen der schlechten Auftragslage für jüdische Rechtsanwälte in finanzielle Not, auch wenn Felix Hecht als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs zunächst weiter arbeiten durfte. Sie musste Teile ihres Hauses in eine Pension verwandeln. Um auch „arische“ Kunden zu gewinnen, nahm Edith Hecht ihren Geburtsnamen von Sillich wieder an. Die Einnahmen reichten allerdings nicht und Ende 1934 wurde das Haus zwangsversteigert. Die Familie zog gemeinsam in eine Sechszimmerwohnung in die Hagedornstraße 27. Zwei Zimmer mussten untervermietet werden. 1937 zog Edith von Sillich mit ihren Kindern in eine nun wirklich bescheidene Fünfzimmerwohnung in der Hansastraße 72, von der sie eineinhalb Zimmer untervermietete. Jetzt trennte sich die Familie räumlich. Felix Hecht kam in der Wohnung seines jüngsten Bruders Edgar unter, der mit seiner Familie im Nachbarhaus in der Hagedornstraße wohnte.
Die sogenannten Nürnberger Gesetze 1935 verschärften die Einschränkungen für Jüdinnen und Juden und für die Kinder der Familie Hecht, die als „Mischlinge ersten Grades" galten. Ingeborg Hecht erfuhr auf einer Klassenreise aus dem Radio von den Gesetzen: „Meine Klassenlehrerin Fräulein Rieke (sie lebt immer noch [1984] und war immer eine überzeugte Antifaschistin) wird immer nervöser, geht auf und ab – bleibt hinter meinem Stuhl stehen. Sie legt mir wie zufällig die Hand auf die Schulter, dann streicht sie mir flüchtig übers Haar. Ich bin etwas verwundert, denn ich habe gar nicht begriffen, was da verkündet wurde und was meine Zukunft, mein Leben so sehr verändern würde. Erklärt wurde mir das erst zu Hause. Bei meiner Rückkehr stehen meine Eltern am Bahnhof und mein sonst immer fröhlicher und zu Scherzen aufgelegter Vater empfängt mich mit einem todtraurigen Gesicht.“[4]
Gegenseitige Besuche der Familienmitglieder waren jetzt gefährlich.
Nach der Schulentlassung aus der Realschule 1937 war es Ingeborg Hecht verwehrt, das Gymnasium zu besuchen. „Mein Kindheitstraum, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Jura zu studieren, war also ausgeträumt …“[5] Notgedrungen begann sie eine kaufmännische Ausbildung bei einem Hamburger Patentanwalt, brach sie aber nach einem Jahr ab. Danach arbeitete sie als kaufmännische Hilfskraft bei einem Handelsvertreter, der sie aber nach Kriegsbeginn 1939 aus wirtschaftlichen Gründen nicht weiter beschäftigen konnte. Später arbeitete sie in verschiedenen Stellungen und lernte es, Kacheln kunstvoll zu bemalen, die als Geschenkartikel verkauft wurden.
Das Ende ihres ersten Rendezvous beschrieb Ingeborg Hecht so: „Ich bin aussätzig“, sagte ich. Hans hielt mich für betrunken. Ich aber mußte ihm beibringen, was ein Mischling ersten Grades sei. Wehrte den Anfängen. Wir beschlossen, uns nicht wiederzusehen. Es war schlimm, zum ersten Mal sehr schlimm.“[6] Im Juni 1938 ließ sie sich als Vorsichtsmaßnahme christlich taufen, was ihren gesellschaftlichen Status allerdings nicht änderte.
Während des Novemberpogroms wurde Felix Hecht am 10. 11.1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Am 17. Dezember kam er wieder zurück: „Er kam kahlgeschoren, gebückt, schmal. Ein müder Mann mit müden Augen. Und er fror, fror, fror. Er hatte die Kälte in seinem Körper gespeichert, beim Steineklopfen im Freien, bei vorschriftsmäßiger dünner Kleidung im eisigen Novemberwind. … Mit leiser Stimme, unterbrochen von dem dumpfen Husten, den er lange nicht losgeworden ist, erzählte er Ungeheuerliches.“[7]
Kurz vor Ostern 1940 wurden Felix Hecht und Edith von Sillich wegen „Rassenschande“ verhaftet und für drei Wochen in der Haftanstalt Fuhlsbüttel „in Schutzhaft“ genommen. Um die Freilassung zu erreichen, musste sich Edith von Sillich verpflichten, ihren geschiedenen Mann niemals wiederzusehen und zu verhindern, dass ihre Kinder sich „arische“ Partner suchten. Ansonsten würde man sie wieder verhaften. Für Edith von Sillich war dies eine traumatische Erfahrung, sie litt bis zur Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 unter ständigen Angstzuständen und stand in psychiatrischer Behandlung.
Felix Hechts Besuche seiner Familie waren von den Mitbewohnerinnen in der Hansastraße 72 – ältere Frauen, die alle NSDAP-Mitglieder waren – angezeigt worden. Nach der Haftentlassung waren gemeinsame Treffen der Familie Hecht somit nicht mehr möglich. Ein letztes Zusammentreffen gelang während einer der Bombennächte 1943. Die Briefträgerin in der Hansastr. stellte der Familie ein Nebengelass ihres Luftschutzkellers zu Verfügung. So erlebte Ingeborg Hecht die letzte Begegnung ihrer Eltern: „Von ihnen schien alle Entfremdung abgefallen zu sein, es gab kein Gestern und es würde kein Morgen geben – es gab nur das Hier und Jetzt, das sie freundlich empfanden in diesem kleinem, dumpfen Raum, der fast nur durch eine Kerze erhellt war … und in den noch einmal das Licht einer schönen und liebevollen Vergangenheit fiel – bevor es ganz verlöschen mußte.“[8]
1941 gebar Ingeborg Hecht ihre Tochter Barbara. Der Kindesvater befand sich zu dieser Zeit schon als Soldat im Krieg. Seine Bitte um ausnahmsweise Heiratsgenehmigung blieb erfolglos: „Zu Barbaras Geburt schrieb er mir von der Ostfront, am liebsten käme er aus dem Krieg nicht mehr zurück. Das war kein sehr ermutigender Brief ins Wochenbett einer sehr jungen Mutter, aber ich war daran gewöhnt, nichts zu beanspruchen, nicht einmal Trost. Zu der Zeit war dem Hans schon allerlei Schlimmes widerfahren – einmal meinetwegen, und außerdem hatte er an der Front Furchtbares erlebt.“[9] Hans war nach Barbaras Geburt noch einmal auf Urlaub in Hamburg und hat seine Tochter kennengelernt. Er starb aber im Juni 1944 an der Ostfront.
Nach dem großen Bombenangriff auf Hamburg 1943 konnten Ingeborg Hecht, ihre Tochter und ihre Mutter durch die Hilfe einer Freundin in Staufen im Breisgau unterkommen. Dort konnte sie das NS-Regime ohne weitere größere Verfolgungsmaßnahmen überleben. Sie verweigerte sogar das sogenannte Schanzen am Westwall 1944: „Was mich persönlich anging, so befand ich mich in einer schizophren zu nennenden Situation: Als sogenannter Mischling 1. Grades war ich ebenso rechtlos wie gefährdet. Mein Vater war zu dieser Zeit schon in Theresienstadt; seine Endstation war dann Auschwitz – Es war also durchaus unsinnig, von mir zu erwarten, Gräben gegen einen „Feind“ zu graben, der mich befreien würde.“[10]
Felix Hecht und Wolfgang blieben in Hamburg zurück. Felix Hecht wurde Anfang des Jahres 1944 als „jüdischer Ehepartner von nicht mehr bestehenden Mischehen“ in das KZ Theresienstadt transportiert. Am 28. September 1944 wurde Felix Hecht in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Davon erfuhren seine Angehörigen erst 1948 durch den Suchdienst der Vereinigung der Opfer des Naziregimes. Edith von Sillich hat sich dafür selbst die Schuld gegeben. Schon 1941 sagte sie ihrer Tochter: „Wenn ich das alles gewußt hätte, hätte ich mich niemals scheiden lassen. Wenn ihm etwas passiert, werde ich immer sagen: Ich habe ihn auf dem Gewissen.“ … Sie hat das … bis zu ihrem Lebensende im Jahr 1979 gemeint. Eine lange Zeit.“[11]
Ingeborg Hechts Bruder Wolfgang wurde ab April 1944 zu schwerer körperlicher Zwangsarbeit dienstverpflichtet, erlebte aber das Kriegsende. Er wanderte 1953 nach Honduras und von dort weiter nach Guatemala aus.

Ingeborg Hecht blieb nach Ende des Krieges zusammen mit ihrer Mutter und der Tochter weiter in Süddeutschland. Sie heiratete 1948 den Schriftsteller und Übersetzer (u. a. von Simone de Beauvoir und Frederico Fellini) Hanns Studniczka. Seit 1954 lebte sie als freie Schriftstellerin in Freiburg und publizierte mehr als 20 regionalgeschichtliche Arbeiten. Über 30 Jahre lang litt Ingeborg Hecht an einer schweren Angstphobie und verließ die eigene Wohnung kaum mehr. 1975 starb ihr Ehemann, 1977 die Tochter Barbara und zuletzt 1979 auch die Mutter.
1984 veröffentlichte Ingeborg Hecht ihre autobiographische Schilderung „Als unsichtbare Mauern wuchsen“. Der Hamburger Schriftsteller und Jude Ralph Giordano schrieb im Vorwort: „Es ist das ungesühnte, unsühnbare Unrecht, das einem bei der Lektüre von Ingeborg Hechts Buch das Herz abschnürt, die Inflationierung von Schuld und Verantwortung und wie billig, von Ausnahmen abgesehen, diese Schuldigen und Verantwortlichen davongekommen sind…. Die Schuld beginnt bei einer Zustimmung zu einem Regime, das die demokratischen Institutionen und Organisationen verhöhnte und die Menschenrechte mit Füßen trat.“[12]
Der Nachfolgeband „Von der Heilsamkeit des Erinnerns“ aus dem Jahr 1991 erzählt u. a. von der Rezeption der „Unsichtbaren Mauern“ und ihren Auftritten als Zeitzeugin: „Als 1984 mein Buch erschien, begann die Platzangst von mir ‚abzufallen‘. … Ich konnte wieder aus dem Haus gehen, ich konnte mit Freunden im Auto durchs Land reisen. Seit 1988 kann ich wieder in eine Eisenbahn steigen. … Ich kann die Einladung, an Schulen zu lesen, annehmen. Daß ich durch das Schreiben des Buches sozusagen ein zweites Leben gewinnen durfte, dies ist die für mich aufregendste Erfahrung. Und immer findet sich jemand unter den jungen Zuhörern, der sagt: ‚Sie haben sich eben alles von der Seele geschrieben.‘ Womit sie beiläufig, auf Anhieb mehr verstanden haben als die Repräsentanten der Landesämter für ‚Wiedergutmachung‘, die zu keiner Zeit bereit gewesen sind, einen solchen Zusammenhang zu akzeptieren.“[13]
1999 erhielt Ingeborg Hecht die Heimatmedaille Baden-Württemberg für ihre regionalgeschichtliche Publizistik und 2005 „für ihre Verdienste als aufrechte und unbeirrte Demokratin“ das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.
Ingeborg Hecht ist am 06.05.2011 gestorben und wurde in Staufen begraben.
Text: Dr. Ingo Böhle