Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Liesel Deidesheimer Anna Margarete Marie „Liesel“ Deidesheimer

(14.11.1905 Neumünster – 25.4.1993 Hamburg)
Kinderärztin
Neubertstraße 32 (Wohnadresse 1943)
Erinnerungsmedaillon an der Erinnerungssäule im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof


4852 Liesel Deidesheimer
Liesel Deidesheimer; Quelle: Sammlung Susanne Marek

Liesel Deidesheimer verstarb im Alter von 87 Jahren in Hamburg – nach einem Leben im Dienst ihrer Patientinnen und Patienten. Während der NS-Zeit soll sie sich geweigert haben, der NSDAP beizutreten. Die Folge war nach Angaben ihrer Tochter 1941 eine „Strafversetzung“ nach Aussig an der Elbe, in die Provinz, um dort eine „Heilanstalt für lungenkranke Arbeitsmaiden“ zu leiten. Als die Tochter schulpflichtig wurde, durfte die Ärztin mit ihr nach Hamburg zurückkehren. Hier kam sie ans Kinderkrankenhaus Rothenburgsort (KKR). Dort war von 1940 bis Kriegsende eine von mehr als 30 „Kinderfachabteilungen“ des Dritten Reichs eingerichtet. Der überzeugte Nationalsozialist Dr. Wilhelm Bayer (1900 bis 1972) leitete das KKR quasi als Alleinherrscher, der keinen Widerspruch duldete. In der „Kinderfachabteilung“ des KKR wurden Kinder mit Behinderung durch den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ eingewiesen. Ziel war es, diese Kinder dort zu töten. Bayer ließ seine Assistenzärztinnen den Kindern eine Überdosis des Schlafmittels Luminal spritzen. Mindestens 56 Kinder, wahrscheinlich aber noch viel mehr, wurden im KKR so ermordet. Liesel Deidesheimer war eine von nur vier jungen Ärztinnen, die sich diesem Ansinnen verweigerten, während die übrigen meist ohne Skrupel die Todesspritzen verabreichten.
Liesel Deidesheimer wuchs in einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie in Neumünster aus. Als die Textilfabrik 1913 abbrannte, ging ihr Vater Alfred Hanssen mit seiner Familie nach Hamburg und baute dort einen Lebensmittel-Großhandel auf. Hamburg wurde für Liesel Deidesheimer zur Heimat.
1934 heiratete sie den aus Passau stammenden Chirurgen Hans Deidesheimer. Das Paar lernte sich während des Medizinstudiums in Marburg kennen, wo die junge Hamburgerin nur zwei Semester studierte, während sie ihr Hauptstudium in ihrer Heimatstadt absolvierte. Dr. Hans Deidesheimer machte sich als Chirurg und als Gynäkologe einen Namen. 1936 wurde die einzige Tochter Susanne geboren. Bereits 1941 ließ sich das Paar scheiden. Die Medizinerin war seit der Hochzeitsreise gehandicapt, da eines ihrer Beine nach einem Bruch einige Zentimeter kürzer war als das andere. Nach Darstellung ihrer Tochter soll die Kinderärztin dafür gesorgt haben, dass ein befreundetes jüdisches Ehepaar NS-Deutschland verlassen konnte und so den Holocaust überlebt hat. „Das Ehepaar hatte irgendwie mit Lebensmitteln zu tun. Der Sohn hieß Martin. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass sie rauskamen. Als ich sie gefragt hatte, wo denn der Martin sei, hat sie mir geantwortet, dass die ins Ausland gefahren sind“, erinnerte sich Tochter Susanne Marek.
Nach dem Krieg engagierte sich die Medizinerin für soziale Außenseiter. „Meine Mutter war die einzige Kinderärztin in der Gegend, die die Kinder in den Nissenhütten versorgte“, erinnert sich Susanne Marek an eine Siedlung im Westen Langenhorns. Die Kinderärztin versorgte auch Familienangehörige, wenn sie bei der Untersuchung der Kinder feststellte, dass auch sie krank waren. Und manche von ihnen, die später straffällig geworden waren, forderten sie auch in der Strafanstalt Fuhlsbüttel an. Dort lernte sie ihren späteren Chauffeur kennen, der sie nach seiner Haftentlassung ab Mitte der 1980er Jahre zu Hausbesuchen fuhr. Sie selbst war in fortgeschrittenem Alter nicht mehr in der Lage, Auto zu fahren.
Die Pädiaterin lebte bis auf zwei kurze Unterbrechungen in Hamburg. 1943 findet sie sich im Adressbuch als Ärztin an der Neubertstraße, wo sie mit ihrer Tochter wohnte. „Ich erinnere meine Mutter immer lesend in ihrem ganz bequemen Schreibtischstuhl. Ich vermute, dass sie in dieser Zeit für ihren Facharzttitel gebüffelt hat“, sagte Susanne Marek. Noch im Jahr 1943 zogen Mutter und Tochter ins Haus ihrer Eltern an der Uhlandstraße um, weil sie an der Neubertstraße ausgebombt wurden. 1954 findet sie sich als Fachärztin für Kinderkrankheiten mit ihrer Praxis am Eibenweg in Fuhlsbüttel und privat mit ihrer Wohnung am Brombeerweg, ebenfalls in Fuhlsbüttel. Später verlegte sie ihre Praxis an den Woermannstieg in Fuhlsbüttel. Mit Praxis und Wohnung wechselte Deidesheimer dann etwa 1968 an den Maienweg. Anfang der 1980er Jahre zog die mittlerweile betagte Ärztin in den ersten Stock eines Drei-Parteien-Hauses, das an der Straße „Schanzenberg“ in Hummelsbüttel liegt.
Bis ins hohe Alter hatte sie in ihrer Privatwohnung ein Untersuchungszimmer eingerichtet, in dem sie Patientinnen und Patienten empfing. „Dass sie so lange tätig war, das hat sie am Leben erhalten“, ist sich ihre Enkelin Christiane sicher. Sie lebte während ihrer Ausbildung zur Arzthelferin von 1985 bis 1987 bei ihrer Oma. Mütter ehemaliger Patientinnen und Patienten kümmerten sich in ihren letzten Lebensjahren um die Kinderärztin. Sie war zum Schluss verarmt, weil sie wenig für ihre Altersversorgung getan hatte und nicht mit Geld umgehen konnte. Während sie als Kinderärztin „sehr energisch und dominant“ sein konnte, wie sich die Mutter zweier ehemaligen Kinderpatienten erinnerte, so soll sie im Alter „sehr mild und geistig noch recht lange rege“ gewesen sein.
Von nahezu allen ihrer ehemaligen KKR-Kolleginnen, die dort Kinder mit Behinderung getötet hatten, ist nicht überliefert, dass sie nach dem Krieg Kinder mit Behinderung behandelt hätten. Liesel Deidesheimer war mit der 20 Jahre jüngeren Sofie Brinkmann befreundet. Sie entdeckte, dass ihr 1952 geborener Sohn Peter behindert war. Sie kümmerte sich noch um ihn, als er schon ein junger Mann war. Zum Ende hatte sie selbst nahezu nichts mehr. Für ihre Patientinnen und Patienten und ihre Tochter und Enkelin gab sie quasi ihr letztes Hemd.
Text: Andreas Babel