Erna Nakoinzer
(5.11.1904 Hamburg – 21.1.1983 Hamburg)
Verleugnetes Opfer des Nationalsozialismus
August-Krogmann-Straße 100 (ehemaliges Versorgungsheim Farmsen)
Erinnerungsmedaillon an der Erinnerungssäule im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof
Erna Nakoinzer war die Tochter des Drechslers Karl Nakoinzer und seiner Frau Katharina. Sie hatte Lernschwierigkeiten und besuchte die Hilfsschule. Einen Beruf konnte sie anschließend nicht erlernen, sondern führte ihren Eltern in der Lincolnstraße in Hamburg-St. Pauli den Haushalt. Ein Arzt wollte Erna in die damaligen Alsterdorfer Anstalten einweisen, weil er sie für geistig behindert hielt. Doch dagegen verwahrten sich ihre Eltern.
Nach deren Tod lebte Erna Nakoinzer zunächst noch mit einer Schwester zusammen und zog dann zu ihrem Bruder in die Erichstraße in St. Pauli. Auch ihm führte sie den Haushalt. Eine Fürsorgerin notierte im Sommer 1932 bei einem Hausbesuch: Erna müsse auf einer zerbrochenen Chaiselongue auf dem sehr schmutzigen Dachboden leben, es sei „glühend heiß dort, voller Gerümpel“ und „als Schlaf- oder Aufenthaltsraum für einen Menschen unmöglich“. Daher bat die Fürsorgerin die Sozialbehörde dringend darum, Erna zumindest „ein ordentl[iches] Bett zu befürworten“.
Ende 1932 brachte Erna Nakoinzer eine Tochter zur Welt, die sie Ruth nannte. Das Jugendamt entzog ihr das frühgeborene Kind und brachte es in ein Waisenhaus, wo es mit nur fünf Monaten starb. Mehrfach hatte Erna Nakoinzer das Fürsorgeamt um Fahrgeld gebeten, um Ruth im Heim stillen zu können. Im August 1933 verhaftete die Polizei sie wegen angeblich „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“ – eine Chiffre von Behörden für Frauen, denen sie Prostitution nicht nachweisen konnten, deren Sexualleben aber nicht der herrschenden Moral entsprach. Wenig später wies das für „sexuell gefährdete Frauen und Mädchen“ zuständige Hamburger Pflegeamt Erna Nakoinzer in die geschlossene Abteilung des städtischen Versorgungsheims Farmsen ein. Polizisten brachten sie dorthin. Ihr einziger Besitz bestand aus wenigen Kleidungsstücken, die sie in einem Koffer bei sich trug. In dem Heim sollten angeblich arbeitsscheue Fürsorgeempfänger*innen sowie Alkoholkranke durch Arbeit „gebessert“ werden. Tatsächlich aber handelte es sich um eine Bewahranstalt, in der sie unter Ausbeutung ihrer Arbeitskraft so billig wie möglich untergebracht wurden und „fügsam“ gemacht werden sollten. Erna Nakoinzer musste im Waschhaus arbeiten – eine anstrengende Tätigkeit, bei der die dort eingesetzten Frauen stundenlang standen. Wegen geschwollener Füße durfte sie später in den Kartoffelschälkeller wechseln. Auch bestrafte das Personal jedes Fehlverhalten der Insass*innen mit teilweise drakonischen Maßnahmen wie Dunkelhaft in einer Einzelzelle bei Wasser und Brot. Noch 1933 wurde Erna Nakoinzer entmündigt, weil sie ihre Angelegenheiten angeblich nicht selbst regeln konnte. Der leitende Oberarzt der Hamburger Gesundheitsbehörde, Paul Peters, hatte bei ihr „Geistes-schwäche“ diagnostiziert, durch die sie „in höchstem Maße sexuell gefährdet“ wäre, sowie eine Depression infolge hochgradiger Erschöpfung – angesichts des frühen Todes ihrer kleinen Tochter und der Um-stände, unter denen sie leben musste, nicht verwunderlich. Im Jahr darauf wurde Erna Nakoinzer in der Hamburger Frauenklinik Finkenau zwangssterilisiert. Mit diesem chirurgischen Eingriff hinderte das NS-Regime all jene daran, Kinder zu gebähren, die ein so genanntes Erbgesundheitsgericht aus zwei Ärzten und einem Juristen für „minderwertig“ und „erbkrank“ erklärte. 1939 übernahm die Pflegeamts-leiterin Käthe Petersen Erna Nakoinzers Vormundschaft. Um zügig und ohne den Widerstand der Betroffenen oder ihrer Angehörigen so viele „gefährdete“ und angeblich geistesschwache Frauen wie möglich entmündigen zu können und danach sterilisieren zu lassen, hatte Petersen – reichsweit einmalig – das Prinzip der Sammelvormundschaft eingeführt. Sie war damit gleichzeitige Vormundin von Hunderten von Frauen.
Erna Nakoinzer verließ das Versorgungsheim Farmsen nicht mehr. Sie arbeitete weiter im Kartoffelkeller, im Waschhaus oder auf dem Feld des Staatsguts Farm-sen. An Feiertagen holten ihre Schwestern oder ihr Bruder sie gelegentlich zu sich nach Hause. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des NS-Systems 1945 änderte sich nichts für sie. 1962 beschloss das Hamburger Amtsgericht, dass ihre Unterbringung in der geschlossenen Abteilung des Versorgungsheims „zu ihrem Wohl“ weiter nötig sei. 1971 wurde sie auf die Pflegestation verlegt. Als sie mit 78 Jahren starb, hatte sie fast 50 Jahre ihres Lebens zwangsweise in einer städtischen Fürsorgeanstalt verbracht. Und obwohl sie Jahrzehnte lang dort gearbeitet hatte, erwarb sie keine Rentenansprüche. Nach ihrem Tod listete das Heim ihren Besitz auf: wenig Kleidung und Modeschmuck, ein defektes Fernsehgerät, eine Puppe und ein Stofftier. Vermerk: „wertlos“. Bestattet wurde sie auf dem Ohlsdorfer Friedhof.
Die Verfolgung mittelloser, unangepasst lebender Menschen im nationalsozialistischen Hamburg
Der Terror des NS-Staates traf auch unter Armut leidende Menschen, die sich den Regeln für die „Volksgemeinschaft“ nicht anpassen konnten oder wollten. Betroffen waren Bettler*innen, Wohnungslose, Wanderer, Sinti*ze und Rom*nja, Jüdinnen*Juden, säumige Unterhaltspflichtige, Zuhälter, Alkoholkranke, Prostituierte und Frauen, deren Sexualleben von der herrschenden Moral abwich. So unterschiedlich die Genannten waren – eines verband sie in den Augen der NS-Behörden: Sie hätten ihre Lage selbst verschuldet, drückten sich angeblich vor der Arbeit und wurden als „asozial“ abgewertet. Schon im September 1933 ordnete das Reichsinnenministerium eine „Bettlerrazzia“ an. Allein in Hamburg nahm die Polizei 1400 Personen fest.
Eine der gravierendsten Zwangsmaßnahmen gegenüber hilfsbedürftigen und unangepassten Menschen war die Entmündigung. Mit diesem Instrument ließen Fürsorgebehörden sie in großer Zahl in sogenannte Wohlfahrtsanstalten einweisen und zwangssterilisieren. Letzteres betraf bis 1945 in Hamburg fast 16.000 Personen. Jeder Widerstand konnte dazu führen, noch stärker ins Visier der Behörden zu geraten. Trotzdem lehnten sich manche gegen die Drangsalierungen auf. Sie widersprachen einem Sterilisationsbeschluss oder wagten die Flucht aus einer Fürsorgeanstalt.
Ende 1937 erhielt die Polizei noch mehr Macht. Der „Grundlegende Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ ermöglichte es ihr nun auch ohne den Nachweis einer Straftat all jene, die ihrer Meinung nach „durch [...] asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdete[n]“ zeitlich unbefristet nicht nur in Arbeitshäuser wie in Hamburg die Bewahranstalt Farmsen, sondern auch in ein KZ einzuweisen.
1938 lieferten Gestapo und Kriminalpolizei bei zwei reichsweiten Großrazzien („Aktion Arbeitsscheu Reich“) Tausende vermeintlich Arbeitsunwillige in Konzentrationslager ein. Aus Hamburg inhaftierten sie über 500 Personen in den KZ Buchenwald, Sachsenhausen und Lichtenburg. Dort kennzeichnete die SS sie mit einem schwarzen Stoff-dreieck („Winkel“) als „asozial“. Die Überlebenschancen dieser Häftlingsgruppe waren gering. Mit der Diagnose „moralischer Schwachsinn“ wurden zudem viele als „asozial“ stigmatisierte Menschen in Anstalten der NS-Medizinverbrechen getötet.
Die Kapitulation des NS-Regimes 1945 brachte den im KZ Inhaftierten die Freiheit. Doch sie waren seelisch und körperlich schwer gezeichnet. Die in Fürsorgeanstalten Zwangseingewiesen wurden nicht entlassen. Entmündigungen blieben bestehen. Die meisten, die in Behörden, Anstalten und Kliniken für das Leid der Verfolgten verantwortlich waren, setzten ihre Tätigkeit ungestraft fort. Schon Mitte Mai 1945 erklärte die Hamburger Sozialbehörde, nur politische NS-Opfer zu entschädigen. Verfolgung und KZ-Haft als „asozial“ galten nicht als „nationalsozialistisches Unrecht“, sondern als staatliche Ordnungsmaßnahme. Erst 2020 beschloss der Deutsche Bundestag die Anerkennung aller als „asozial“ Verfolgten als NS-Opfer. Damit stand ihnen nun endlich eine Entschädigung zu. Doch fast niemand war mehr am Leben.
Text: Frauke Steinhäuser