Domenica Anita Niehoff
(3.8.1945 Köln – 12.2.2009 Hamburg-Altona)
Kämpferin für die Rechte der Huren, Streetworkerin, St. Paulis großes Herz
Garten der Frauen, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756 (bestattet)
Talstraße (Wohnadresse)
Herbertstraße 69 (Wirkungsstätte)
Namensgeberin für Domenica-Niehoff-Twiete, benannt 2016 in Altona-Nord
Domenica Anita Niehoff, Tochter einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters, wurde am 3. August 1945 (einem Sonntag, daher ihr Vorname) in Köln geboren. Ihre Mutter, die sich von ihrem gewalttätigen Ehemann trennte, als Domenica vier Jahre alt war, war eine krankhafte Spielerin und wurde mehrfach wegen Betruges festgenommen. Domenica wuchs daraufhin bis zu ihrem 14. Lebensjahr zusammen mit ihrer Schwester Angelina und ihrem Bruder Amado in einem katholischen Waisenhaus auf. Nach einer Ausbildung als Buchhalterin lebte sie seit 1962 mit einem Bordellbesitzer zusammen, der sich zehn Jahre später vor ihren Augen erschoss. Dass solch ein Erlebnis Spuren in einem Menschen hinterlässt, dürfte ohne Frage sein. 1972 begann sie, in der Herbertstraße auf St. Pauli als Prostituierte zu arbeiten. Sie gab all ihr verdientes Geld ihrem Zuhälter und war sehr verbittert darüber, dass sie für ihn trotz allem nur die Zweitfrau war. Prostitution wird wohl nie ein Beruf sein, für den man sich aus freien Stücken entscheidet. Kein Grundschulkind würde auf die Frage, was es denn später mal werden wolle, antworten: Wenn ich mal groß bin gehe ich anschaffen. Selbst wenn Domenica Zeit ihres Lebens Stärke und Stabilität ausstrahlte – das hatte sie mit allen anderen Huren gemein: Eine tiefe Traurigkeit und die frühe Erfahrung von Vertrauensverlust und Verlassensein.
Wenn der Name „Domenica“ fällt, tauchen sofort Bilder auf – Domenica mit freizügigem Dekolleté im Fenster ihres Studios in der Herbertstrasse, in den Armen diverser Prominenz, immer mittendrin, besungen von Dichtern und als Muse verehrt. Ein Foto mit Domenica war der Garant für die eigene Freizügigkeit, eine fast amtliche Bescheinigung, dass man neben ihr unzweifelhaft zur Bohème gehörte. Sie war für die meisten, die auf den zahlreichen Bildern neben ihr posieren, das Ticket für einen Trip aus der eigenen Bürgerlichkeit, mitten rein ins bunte Land der Verwegenheiten, fernab der herrschenden Moral. Die Platzreservierung für die Rückreise natürlich inklusive. Und während der Projektor unablässig brummte, gab Domenica bereitwillig die Leinwand ab. Nach dem Ende der Vorstellung begaben sich die Herrschaften zurück in ihre gesicherten Existenzen, und Domenica, die Hure, blieb sich selbst überlassen. War sie deshalb zu bedauern? Ein klares Nein – dafür hat sie viel zu gern aus freien Stücken alles gegeben, was sie hatte. Und sie hat tatsächlich jedem Menschen eine Wichtigkeit verliehen, sich ganz zugewandt und ihre Freundschaft angeboten. Sie war verbindlich, echt und ganz da – wenn auch nur für zehn Minuten oder eine Nacht.
Anfang der 1980er-Jahre erlangte Domenica bundesweit Berühmtheit, weil sie sich öffentlich als Hure bekannte und sich als eine der Ersten für die Legalisierung der Prostitution engagierte. Immer wieder wurde im Zusammenhang mit ihrem Namen mit solchen Begriffen wie „Edelhure“ oder „Berühmteste Prostituierte Deutschlands“ hantiert. Sicherlich macht das den größten Teil ihrer Bekanntheit aus - aber nur deshalb, weil sie im herkömmlichen Sinne keine war. Die Huren auf St. Pauli setzen ihre Grenzen deutlich, zeigen ganz klar: Hier bin ich, da bist du, zwischen uns ist ein Graben, dessen Breite man mit Geld variieren kann. Völlig verschwinden wird er nicht.
Domenica war anders. Sie hat jede Grenze zwischen sich und dem Anderen völlig aufgelöst. Und die Anderen konnte man aus ihrem Gesicht lesen, jeden Einzelnen. Domenica war immer öffentlich, auch im Privaten. Leute kamen, wollten mal eine saubere Hose, mal einen Platz zum Pennen, oft einen Fünfer oder mehr. Meist jeden Tag. Und Domenica gab – immer mehr, als sie hatte.
Ob Prostitution eine Sache des freien Willens ist, darüber lässt sich natürlich streiten. Eine Sache des freien Herzens ist sie ganz sicher nicht. Domenica hat zwar Geld genommen, sich aber hat sie verschenkt.
1990 stieg sie endgültig aus der Prostitution aus. Obwohl sie sich für die Akzeptanz der Huren stark machte, sah sie klarsichtig die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsverhältnisse in der Prostitution. „Sie war wütend auf diejenigen, die die Prostitution glorifizierten“, so der Photograph Günter Zint, mit dem Domenica eng befreundet war.
1991 begann Domenica, als Streetworkerin in Hamburg- St. Georg zu arbeiten. Sie war Mitinitiatorin des Hilfsprojektes „Ragazza e.V.“ und betreute bis 1997 drogenabhängige Mädchen auf dem Straßenstrich. Auch als Streetworkerin blieb sie Domenica – hilfsbereit bis weit über ihre Schmerzgrenze. Ohne den Schutz der so genannten Professionalität, offen bis tief unter die Haut. Schließlich wusste sie nur zu genau, unter welchen Bedingungen die Mädchen anschafften. Sie schliefen oft bei Domenica zuhause, sie schmierte Brote, ging mit ihnen zum Amt, gab Geld, wurde beklaut, gab immer weiter, trieb neues auf, bis auch das wieder verschenkt war. Domenica war eine Sammlerin. Sie träumte von einem eigenen Trödelladen, brachte oft Dinge vom Flohmarkt mit, ihre Wohnung war ein einziges Kuriositätenkabinett. Und genauso wie die Dinge scharte sie Menschen um sich und machte keine Unterschiede zwischen obdachlos und Elbchaussee. Domenica kannte auf St. Pauli jeder. Ihre raue Stimme war schon von weitem zu hören, so rau, als hätte sie sich am Leben hier schrundig gerieben. So eine Stimme hat nur, wer sein Geld nicht mit Büroarbeit verdient. Ein Lachen, das Räume füllen konnte. Rasselnd von den vielen Kippen, die sie täglich rauchte. Eine große Seele, die jeden, der ihr begegnete, in ihr Herz einlud. Aber auch grantig konnte sie werden, pöbeln und keifen, wenn ihr einer dumm kam. Auch da war sie grenzenlos.
1998 übernahm Domenica die Kneipe „Fick“ am Hamburger Fischmarkt, die sie bis zum Jahr 2000 betrieb. Immer wieder wurde ihr nachgesagt, sie sei nicht besonders geschäftstüchtig gewesen. Wie hätte sich ihr großzügiges Wesen auch mit peniblen Bilanzen vereinbaren lassen? Wer so lebt, kann nicht aufrechnen: Was gebe ich? Was bekomme ich dafür? Und das muss keineswegs eine Schwäche sein.
Mit der Arbeit hinter dem Tresen wurde Domenica nach acht Jahren weg von Suff und Drogen wieder rückfällig. Das war auch einer der Gründe, aus dem sie. nach dem Tod ihres Bruders 2001 dessen Haus in Boos in der Eifel bezog, wo sie allerdings fast völlig vereinsamte. Domenica und der Kiez, das war seit Jahrzehnten eine Einheit, untrennbar, und ihr fehlte die Nachbarschaft auf St. Pauli, wo jeder völlig ohne Dünkel miteinander spricht, schmerzlich. 2008 hielt sie es nicht mehr aus und zog zurück. Dort wohnte sie in der Talstraße, sichtlich gealtert und für ihre Verhältnisse auffällig dick - eine kugelsichere Weste, wie eine doppelte Haut als Schutz vor weiteren Verwundungen. Das Haus in der Eifel wurde verkauft, vom Erlös war schnell nichts mehr übrig, denn bis zum Schluss war Domenica immer wieder Anlaufstelle für Bedürftige – so als sei sie nie weg gewesen. Krank war sie schon lange, das wusste sie auch. Die Lunge machte nicht mehr mit, an schlechteren Tagen konnte sie kaum einen Satz ohne Hustenanfall zu Ende bringen. Was sie nicht davon abhielt, munter weiter zu rauchen. „Ett hätt schon immer jot jegange!“, sagte sie gerne in ihrem Kölschen Dialekt – das ist es dann letzen Endes auch. Ohne lange Qual ist Domenica am 12. Februar 2009 im Krankenhaus Hamburg – Altona gestorben.
Alice Schwarzer wollte ursprünglich gemeinsam mit Domenica deren Biographie schreiben, doch als bereits ein Verlag gefunden war, zog sie aus ungenannten Gründen ihr Angebot zurück. Daraufhin bat Domenica die Journalistin Peggy Parnass, mit ihr die Biographie zu schreiben. Monate vergingen und es schien, als hätte sich Domenica inzwischen von dem Projekt verabschiedet. Schließlich verkündete sie, sie wolle die Biographie alleine schreiben und habe bereits damit angefangen. Auch Günter Zint hatte sie als Biographen angefragt. Aber sie konnte nie beim Thema bleiben, sagt er, schweifte ab, war nach zwei Minuten schon wieder ganz woanders. Immer mit vollem Herzen, immer überall. Zum Schluss war ihr Gesicht das einer Hundertjährigen, ihr Herz eins mit Brüchen, Narben und Furchen. Ein Herz wie eine Heimat, vertraut und voller Seele - das schon jetzt auf dem Kiez schmerzlich fehlt.
Domenica Niehoff wurde im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet.
Text: Tania Kibermanis