Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Erna Hammond-Norden Erna Hammond-Norden, geb. Michel

(24.5.1906 Hamburg - 5.1.1979 Hamburg)
Kriegerwitwe, die Frau an seiner Seite
Garten der Frauen, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756 (Historischer Grabstein)
Hans-Henny-Jahnn-Weg 58 (Wohnadresse)
Nölkensweg (Wohnadresse)


Erna Michels Eltern, Marie und Ludwig Michel, waren freundliche, arbeitsame, einfache aber warmherzige Menschen. Die Familie lebte auf der Uhlenhorst in der Osterbekstraße 58 – im ärmeren Teil - wie Opa Michel immer sehr schnell betonte. In einem Altbau des ausgehenden vorletzten Jahrhunderts besaß man eine bescheidende 3-Zimmer-Wohnung im 3. Stockwerk. Heute heißt dieser Teil der Straße Hans Henny Jahn-Weg und man kann ihn getrost zu den besseren Adressen zählen. Der Blick ging auf den schräg gegenüber liegenden Osterbekkanal, dahinter lag die damals bedeutende Firma Kampnagel – heute befindet sich auf dem Gelände in den alten Fabrikgebäuden die Kulturinstitution „Kampnagelfabrik“.
Neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau und Mutter nähte Marie Michel für sich, die Familie und für andere. Damit half sie den kargen Lohn ihres Mannes ein wenig aufzubessern.
Ludwig arbeitete als Industriemechaniker für Aufzugstechnik. Er war ein begnadeter Handwerker, noch in hohem Alter wurde er von seiner Firma – Schmitt & Söhne, Aufzüge – nicht auf schlichte Montage geschickt, nein, immer wenn es darum ging, komplizierte Fehler zu suchen und zu beheben, wurde es zu einer Aufgabe für Ludwig Michel.

3185 Hammond Norden Erna
Erna Hammond - Norden

Gut behütet wuchs Erna in dem bescheidenen Haus auf, schon sehr früh musste die „Große“ Aufgaben im Haushalt übernehmen und bei der Betreuung der Geschwister mithelfen. Nach Ernas Geburt wurden noch drei weitere Kinder geboren, zwei Jungen und 18 Jahre nach Ernas Geburt die Schwester Luise. Von den Brüdern kam der jüngere auf tragische Weise ums Leben: er ertrank beim Spielen im nahen Osterbekkanal. Der ältere hingegen, Walter, war ein Junge, der seinen Eltern und den Lehrern gleichermaßen nicht nur helle Freude vermittelte.
Zu beiden Geschwistern pflegte Erna ein ausgesprochen herzliches Verhältnis. Für Walter war sie nicht nur Nachhilfelehrerin, sie bügelte auch so manches Malheur, das ihm passierte, dank ihrer ausgleichenden Art, die sie schon damals auszeichnete, aus. Bis ins hohe Alter sorgte sie sich immer wieder um Walter und seine Familie, den es nach dem Krieg nach Boizenburg an der Elbe verschlagen hatte. Er versuchte dort eine selbstständige Tischlerei zu betreiben, was ihm in der autoritären Zeit des Arbeiter- und Bauernstaates nur sehr unvollkommen gelang, Dass es trotzdem so lange Zeit gut ging, lag auch an Erna, die unablässig Nägel, Schrauben und jede Art von Beschlägen aus dem Hause Beese & Schmidt als „Geschenksendung, keine Handelsware“ in den anderen Teil Deutschlands schickte.
Die sehr viel jüngere Schwester Luise, Liesche genannt, erfuhr durch Erna auf eine andere Art und Weise Zuneigung und Fürsorge. Erna war schon wegen des erheblichen Altersunterschiedes in die Rolle der „Ersatzmutter“ geraten. Immer hatte „die Große“ für „die Lütte“ zusorgen, ob es sich dabei um das Ausfahren der Schwester im Kinderwagen handelte oder um die Versorgung mit den Primärbedürfnissen, Erna war im täglichen Ablauf des Haushaltes eine fest eingeplante Größe, was ihr zum Teil sogar gefiel. Die Kindheit verlief fröhlich aber karg, nur ein einziges Mal in ihrem jungen Leben durfte sie in ihren Ferien verreisen. Sie reiste nach Kattrepel in Dithmarschen, einem gottverlassenen Dorf zwischen Brunsbüttel und Marne. Hier sah Erna zum ersten Mal in ihrem Leben Kühe, Hühner, Schweine. Allerdings von Ferien machen konnte keine Rede sein. Erna wurde auf dem Bauernhof als gutwillige und preiswerte Arbeitskraft eingesetzt. Sie hatte entsetzliches Heimweh und sehnte das Ende der „Ferien“ tränenreich herbei.
Erna war eine gute, fleißige Schülerin und das vom Vater ererbte handwerkliche Geschick veranlasste sie, so manchen den skeptischen Eltern eher exotisch anmutenden Berufswunsch im künstlerischen Bereich zu äußern. Allerdings wurde der erhoffte Besuch einer höheren Schule und eines Studiums an der Werkkunstschule Opfer des knappen Geldes. So gab es „nur“ eine Lehre in einem Betrieb, der junge Menschen zu einer Art Dekorateuren ausbildete.
Die Zeit der Ausbildung war für Erna eine sehr schöne Zeit, sie übte sich in zahlreichen eher gestalterischen Sparten, was ihr in ihrem späteren Leben noch lang zu gute kommen sollte. Besonders geschult wurden ihr kritisches Auge und ihr stilsicheres Empfinden für Form und Farbe. Beides hat sie sich bis ins hohe Alter erhalten, sogar wir, die jüngere Generation, haben noch davon profitieren können.
Die Jugend war arbeitsam, aber fröhlich und unbeschwert. Man traf sich mit Gleichgesinnten zum Wandern und Musizieren, man ging ins Konzert und ins Theater. Der Muff des gehobenen Bürgertums unterlag eindeutig gegen den Duft der frischen Blüten in freier Natur. Alkohol und Tabak waren gleichermaßen tabu und man stand den Anthroposophen eindeutig näher als dem aufkommenden Establishment.
Fröhlich ging Erna mit der Freundin zum Künstlerfest, das alljährlich im bekannten Curio-Haus stattfand. Nachfolger dieser Feste war das ebenso bekannte wie beliebte LI-LA-LE, wobei die letzte Silbe „LE“ auf das Lerchenfeld hinwies, den Sitz der HfbK – der Hochschule für bildende Künste. Hier nun, auf dem Künstlerfest tanzte und feierte man ausgelassen und Erna lernte den jungen etwas schlaksigen Wilhelm kennen. Der sehr charmante, dunkelhaarige und intellektuelle Wilhelm war notgedrungen Steinmetz geworden. In seiner tiefsten Seele fühlte er sich als Literat. Er schrieb Lyrik und Prosa, aber auch Parodien, Texte fürs Kabarett und Theaterkritiken. Das gefiel der jungen Erna und aus seinem Vornamen „Wilhelm“ machte sie kurzerhand „Hammond“. So wurde er fortan von ihr und ihrem Freundeskreis genannt.
Am 16.10.1931 heiratete Erna ihren Hammond und für die zwei begann eine kurze Zeit des Glücks. Man bewohnte eine kleine, aber hübsche Wohnung im Nölckensweg, die jedoch nach der Geburt des ersten Kindes, der Tochter Renate, schnell zu klein wurde. So war man ab August 1934 nun zu Dritt. Die Suche nach einer neuen Bleibe gestaltete sich schwieriger als gedacht, man verdiente zwar ausreichend, aber das Geld war nicht gerade üppig vorhanden. Eigentlich war es immer knapp für Erna, früher schon, bei den Eltern, in der ersten Zeit der glücklichen Ehe, in der Kriegs- und Nachkriegszeit erst recht. Erna lernte erneut einzuteilen und den Haushalt und das Leben zu organisieren, etwas, was ihr Hammond überhaupt nicht konnte (und auch nicht wollte). Es war eine gute Zeit für die kleine Familie und für Erna die glücklichste Zeit ihres Lebens. Hammond schrieb und veröffentlichte, Erna war seine Lektorin und sie war auch des Kritikers wichtigste Kritikerin. Das Paar besuchte die Hamburger Theater und den legendären Bronzekeller. Zu seinen Freunden gehörten Hans Leip, Eugen Roth, Helmut Gmelin, Hans Harbek u. a.
Doch kein Glück währt ewig, wissen wir aus der Geschichte, und im Fall der beiden jungen Eheleute bahnte sich das (politische) Donnergrollen in Form des ungewollten und ungeliebten Machtwechsels an. Natürlich stand man als Künstler und Intellektueller der SPD nahe und war sogar Mitglied dieser nicht nur Arbeiterpartei. Das Grollen wurde heftiger und als 1938 die ersten Fensterscheiben der jüdischen Geschäfte zerbarsten, war das Glück der Familie ernsthaft gefährdet. Das wurde auch nicht durch die Geburt des zweiten Kindes merklich verhindert. Der Sohn Henning, im Dezember 1938 geboren, war nichtsdestotrotz ein Sonnenschein der Familie - auch wenn oft etwas ernst und skeptisch dreinblickend. Hammond ahnte und sagte es unverhohlen: wenn es Krieg gibt, werde ich gleich eingezogen. Und so war es, im September 1939 kam der Einberufungsbefehl. Gerade er, der zusammen mit seiner Frau Erna diesem Regime und damit dem wahnsinnigen Treiben so skeptisch gegenüber stand, musste als einer der Ersten in den Krieg. Auch wenn er zuerst das Fronttheater leiten durfte, er und Erna waren todunglücklich. Zuerst noch schickte er Gedichte und Aufsätze aus „dem Feld“, die Erna in den verschiedenen Tageszeitungen veröffentlichen ließ, genauso gingen zahllose Pakete mit allerhand Gutem in die andere Richtung, an die Front. Hammond musste den Russlandfeldzug mitmarschieren, treu einem ungeliebten Führer dienend.
Für Erna begann eine schwere Zeit, nur wir Kinder merkten davon nichts, besser: fast nichts. Einer Familie vorzustehen, den Mann im Krieg zu wissen und nur über einen kargen Sold zu verfügen war schon schlimm. Was aber am schlimmsten war, war die von Tag zu Tag schwindende Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses unsinnigen Krieges. Zwar hatte Hammond seiner Familie vorsorglich eine kleine Unterkunft in Hohwacht an der Ostsee besorgt, für den unwahrscheinlichen Fall, die großspurigen Vorhersagen des „Gröfaz“ würden nicht zutreffen.
Der Familienbetrieb lag durch verfehlte Betriebspolitik des Schwiegervaters darnieder und wurde zum Schleuderpreis von einem Wettbewerber übernommen. Und dann kam die schreckliche Nachricht: Ihr Mann wurde nach den Kämpfen um Stalingrad vermisst. Gekämpft für Führer, Volk und Vaterland, versteht sich, welch eine Ironie.
Immer schon das Schlimmste befürchtend, war diese Mitteilung ein Tiefschlag für die Familie. Noch heute sehe ich meine Mutter mit Tränen in den Augen, wenn sie einen der zahlreichen Berichte heimgekehrter Soldaten mit anhören musste, die auch nur andeutungsweise von den schrecklichen Zeiten in Russland erzählten.
Der Krieg wurde heftiger und als die Bomben über Hamburg fielen, konnten wir in Hohwacht den Himmel rot leuchten sehen. Erna entschloss sich, nach den furchtbaren Bombennächten nach Hamburg zurück zu fahren, um zu erfahren, wie es den Eltern in der Osterbekstraße ergangen war. Die Fahrt nach Hamburg war ein aufwendiges Unterfangen zu einer Zeit, in der Bahnen und Busse nach nur kaum geregelten Plänen fuhren. So fuhr Erna mit dem Pferdefuhrwerk nach Lütjenburg, von dort mit dem Zug nach Oldenburg, dann weiter nach Lübeck und von dort nach Hamburg. In Hamburg angekommen, ging es zu Fuß vom Hauptbahnhof an der Alster entlang zur Uhlenhorst, weiter die Osterbekstraße hinauf zum Haus der Eltern. Schon im Winterhuder Weg und später in der Osterbekstraße: überall Trümmer und hohle ausgebombte Häuserfassaden. Auf ihrem Weg zu ihren Eltern sah Erna in der Ferne ein letztes Haus stehen. Bange Fragen schossen ihr durch den Kopf: Ist das nur noch die Fassade ihres Elternhauses oder steht das Haus noch? Das Haus stand noch. Im Eingang des Treppenhauses hing ein Pappschild. Erna erkannte die deutliche, etwas ungelenke Handschrift ihres Vaters. „IN DIESEM HAUS SIND ALLE AM LEBEN“ war zu lesen. Erna setzte sich auf die erste Treppen stufe und weinte Tränen des Glücks, der Erleichterung und der Erschöpfung. Wir sehen, in dieser Zeit wurde der Begriff „Glück“ anders definiert: nicht der Lottogewinn, nicht das neue Auto, nicht ein neuer PC..., das Geschenk des Lebens ist das höchste Glück.
Nach dem Krieg wohnten wir wieder in der „alten“ Wohnung in Fuhlsbüttel. Notgedrungen mussten wir Untermieter aufnehmen, denn unsere 2+ 2/2 Zimmer-Wohnung galt dem Wohnungsamt für uns als zu groß. So wurde die Hälfte der Wohnung von einer ausgebombten Familie bewohnt, was die ohnehin schwierige Zeit noch schwieriger werden ließ.
Erna ließ nichts unversucht, den Verbleib ihres Mannes zu klären; alle Hilfsorganisationen wurden konsultiert, mehrfach und intensiv. Immer wieder Hoffnung schöpfend. Doch irgendwann erlosch auch die kleinste Flamme der Zuversicht - allerdings, ein ganz kleiner Funke Hoffnung blieb immer.
Auch wenn diese Zeit die schwerste für Erna war, tapfer versuchte sie, das nicht gerade leichte Los zu überspielen, allein wegen uns – der Kinder. Mit ihrer kleinen Rente konnte sie sich mit uns Kindern nicht ernähren. So übernahm sie neben unserer Erziehung die Büroarbeit in der nicht mehr der Familie gehörenden Steinmetzfirma Norden und Co.. Tag für Tag fuhr sie mit dem gebraucht gekauften Fahrrad zur Firma nach Ohlsdorf, „schmiss“ den Laden mit viel Hingabe und Geschick, wohl immer noch auf das Wunder der Heimkehr ihres Mannes hoffend. Abends von der Firma nach Hause kommend wurde eingekauft: solidarisch in der „PRO“ und gesundheitlich im Reformhaus. Beide, fanden meine Schwester Renate und ich, waren schreckliche Geschäfte. Die PRO weil der Einkauf immer entsetzlich lange dauerte und wir Kinder anschließend, das sahen wir als Höchststrafe an, die Kassenbons addieren mussten. Am Jahresende gab es dann eine Art Wiedergutmachung in Form von vielleicht 2 % des Einkaufswertes. (Seitdem bin ich bekennender Gegner von Rabattmarken, in welcher Form auch immer). Und im Reformhaus gab es die ebenso gesunde wie schreckliche Margarine „Vitaquell“, die schmeckte nach nichts. Hinzu kam als Krönung des Ganzen so etwas perfides wie der braune Zucker. Er bewegte sich noch stundenlang wie ein verendender Wurm.
1955 musste Erna noch einen Tiefschlag der besonderen Art, in menschlicher wie moralischer Hinsicht, erleben. Sie erhielt einen Brief vom Amtsgericht, in ihm wurde ihr die Bestätigung der Todeserklärung für ihren Hammond mitgeteilt. Doch niemals hatte sie eine solche angefordert, denn schließlich hatte sie die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Was war also geschehen? Die Steinmetzfirma Hammond-Norden & Co. gehörte dem Bildhauer Oscar E. Ulmer, der den jungen Harald Range als Partner aufgenommen hatte, nachdem dieser sein außerordentliches Geschick als Verkäufer bewiesen hatte.
Als nun Herr Range Partner der Fa. Hammond-Norden & Co. werden sollte, konnte die handelsgerichtliche Eintragung nicht vorgenommen werden, weil Wilhelm Hammond-Norden noch als Mitinhaber eingetragen war. Und so ließ Oscar E. Ulmer den Hammond kurzerhand für tot erklären, um damit die Möglichkeit zu haben, den Namen Wilhelm Hammon-Norden aus dem Handelsregister löschen zu können. Rechtlich war dies möglich, denn die Vermisstenmeldung war älter als 10 Jahre und es bestand ein „berechtigtes Interesse“.
Erna war tief getroffen. Doch sie konnte nach zähen Verhandlungen mit Ulmer und Range erreichen, dass ihr Sohn Henning später als Partner in die Firma aufgenommen werden sollte - die fachliche Eignung vorausgesetzt. Natürlich ging Erna danach weiterhin in die Firma, wenn auch ohne die ehemalige Freude und Begeisterung.
Die Zeiten normalisierten sich und Erna erfuhr noch ein kurzes spätes Glück.: Beide Kinder absolvierten ihre Ausbildungen und wurden im Beruf erfolgreich. Sie gründeten Familien, und selbst hier half Erna: sie unterstützte das Enkelkind beim Lernen für das Abitur und den Sohn beim Aufbau seines Steinmetzbetriebes, nachdem er sich von den auch von ihm ungeliebten Geschäftspartnern getrennt hatte. Sie nähte Vorhänge für das Haus, bepinselte die alten Balken gegen Holzwurm und schickte immer noch Pakete zum Bruder Walter in die DDR. Sie spendete für das SOS Kinderdorf, für die Kriegsgräberfürsorge, Brot für die Welt - das Wenige was sie hatte, wurde geteilt.
Ernas spätes Glück hatte einen Namen: Holm. In dieser kleinen Gemeinde nahe Wedel fand sie ein kleines, sehr altes Bauernhaus, eine total verfallene Kate die sich wohl nur in der Phantasie der Optimistin Erna in ein ansehnliches Gemäuer verwandeln ließ. Ihre bescheidenen Mittel wurden durch Eigenhilfe und eine schier unglaubliche Tatkraft ergänzt, und was kaum jemand für möglich gehalten hatte: eines Tages war das kleine Häuschen fabelhaft fertig erstellt und wurde bewohnt. Erna lebte dort nun seit ungefähr 1965 – und wir verlebten hier in unmittelbarer Nähe der Holmer Sanddünen und der Haseldorfer Marsch unglaublich schöne Stunden - gemeinsam mit Erna, die sich ganz bestimmt am meisten über dieses neue Zuhause freute. So klein das Haus auch war - es war doch ein „großes“ Haus, denn immer waren Gäste zugegen und genossen die Natur um das Haus, die nahe Elbe und natürlich Ernas Gesellschaft, denn sie war interessiert und engagiert.
Eine letzte Geschichte fällt mir ein. Es ist die Geschichte, in der Erna „Opfer“ ihrer Beliebtheit wurde. Erna bekam ungefähr 1970 Besuch von einer Freundin aus ganz alten Tagen. Diese schwärmte Erna von Italien vor, genauer gesagt von Diano Marina mitten in den Olivenbergen Liguriens und nicht weit vom Mittelmeer entfernt. Dort gäbe es ein Dorf mit wunderschönen alten Häusern, zwar etwas verfallen aber dafür sehr, sehr preiswert und wirklich schön gelegen.
Erna zeigte großes Interesse und die beiden älteren Damen nahmen den Zug, um nach Ventimiglia zu fahren, wurden fündig und kamen begeistert zurück. Wir ließen uns anstecken von Ernas Freude und Optimismus. „Stellt euch vor“, schwärmte sie: „das Haus ist über 200 Jahre alt, hat meterdicke Wände, und mit ganz wenig Mitteln lässt es sich herrichten zu einem wunderschönen Domizil am Mittelmeer. Es liegt in „Ughi“, an der 13. Serpentine Richtung Norden. Direkten Zugang zur Straße hat das Haus nicht, aber das muss es auch nicht, wichtiger ist der mehrmals täglich verkehrende Bus von der Ortsmitte Ughi zum Meer, nur eben die 13 Serpentinen Richtung Süden zu Fuß gewandert... und schon ist man am Meer.“
Wir alle, meine Schwester und ich, halfen beim Herrichten und Renovieren des Hauses. Außerdem unterstützten uns zahllose Bekannte, die für ihre Hilfe Logis und Verpflegung erhielten. Denn dass man im Haus übernachten konnte, dafür sorgte Erna.
Die Realisierung dieses schönen späten Traums war nicht ganz so einfach wie zunächst gedacht und erhofft. Es gab weder eine Kochmöglichkeit, noch Strom und Wasser. Auch war die Abwasserfrage ungeklärt. Aber, wer Erna kannte, wusste, dass dieses keine wirklichen Probleme für sie waren. Das Abenteuer Leben hatte schon ganz andere Aufgaben für sie bereit gehalten. Mit nur geringen Italienischkenntnissen und noch weniger Geld ging es immer häufiger gen Süden, per Bahn im Liegewagen, ein Auto gab es nicht. Letztlich formulierte Erna ihre Erkenntnisse über das Unterfangen, in Italien bauen zu wollen mit den Worten, „... sie kenne nun die wahren Erfinder der Bürokratie: es sind die Italiener, die Deutschen hätten sie lediglich perfektioniert...“
Und in der Tat, irgendwann ca. 1973 war auch dieses kleine Haus fertig – so wie ein 200 Jahre altes Haus fertig sein kann – es gab einen kleinen Garten mit einem Olivenbaum, einem herrlich alten Feigenbaum und von der kleinen Terrasse hatte man einen bezaubernden Blick in die Olivenhaine. Auf dem schmalen, steinigen Weg trabte der alte Nachbar Isidore samt Esel vorbei, freundlich heraufgrüßend gab er uns zu verstehen, dass er bald wieder ein Kaninchen für uns braten wolle, dazu wurde selbst gekelterter Rotwein genossen. Oft waren wir dort, bei Erna in Ughi, allein oder auch mit Kind und Kegel, es war eben ein kleines großes Haus...
Erna kam immer regelmäßig nach Hamburg, wegen des Zahnarztbesuches und, noch wichtiger, um sich im UKE untersuchen zu lassen, wo sie sich sieben Jahre zuvor (erfolgreich, wie ihr immer wieder versichert wurde) wegen eines bösartigen Hauttumors hatte behandeln lassen. Doch nun klagte Erna über Schmerzen im Hals. Der eilig konsultierte HNO-Arzt verordnete fatalerweise Bestrahlungen mit Wärme, was den Effekt hatte, dass der erneut im UKE festgestellte Krebs sich prächtig entwickeln konnte.
Ernas Sterben war qualvoll und lang. Über ein halbes Jahr lang besuchten wir sie täglich in der Klinik. Kleinste Besserungen des Zustandes wurden dankbar registriert und eine Reha bei Mölln brachte uns tatsächlich einen kleinen Hoffnungsschimmer. Ein letzter Besuch mit den Enkeln zu Weihnachten bei ihr in der Klinik endete ebenso innig wie traurig: Die Mädchen spielten auf den Gitarren und sangen dazu Weihnachtslieder.
Am 5. Januar 1979, dem heiligen Drei-Königstag, starb Erna, wenigstens friedlich.
Text: Henning Hammond-Norden