Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Hertha Borchert Hertha Borchert, geb. Salchow

(17.02.1895 in Altengamme - 26.02.1985 in Hamburg)
Vierländer Schriftstellerin und Mutter Wolfgang Borcherts
Tarpenbekstraße 82 (Wohnadresse)
Mackensenstraße 80 (heute Carl-Cohn-Straße) (Wohnadresse)
Fuhlsbüttler Straße 756, Ohlsdorfer Friedhof, Grab Nr. AC 5, 6, am Fuß des Hügels
Nach ihr wurde 2024 der 1973 in Steilhopp nach ihrem Sohn benannte Borchertring mitbenannt.


„Winn ick jo’n Freid moken kann, will ick dat woll noch mol mit Plattdütsch verseuken. Ober gläuvt man nich, datt dat so einfach is för’n Froo in mien Johren. Wat ick all in’n Kopp hebben mutt, bie datt, wat hier all an’t Hus randrifft, dat möt jü ook man bedinken. Ober dor hebbt jü gewiß keen Ohnung to. Dat geiht hier bie mi op französisch,op italienisch, op chinesisch, op japonisch, op griechisch, un ut Portugal kummt se ook un ut Ingland un Amerika usw. Je, un winn ick disse Fründ’n, de all dör Wolfgang, dör unsen Jung, in’t Hus kummt un dat nich so licht hebbt mit uns’ hochdütsche Sprok, nu ook noch mit Plattdütsch kummen wull, dinn warrt se je ganz un gor brägenklüterig, – ´nog, datt se unsen Jung verstoht, uns’ Hochdütsch.“[1]

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Hertha Borchert, Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Mit diesen Worten beginnt Hertha Borcherts autobiographische Erzählung „Noch ins weller Platt“, der einzige Text, den sie nach der Heimkehr und dem Tod ihres Sohnes Wolfgang Borchert geschrieben hat.
Hertha Borchert, eine Erzählerin, eine Schriftstellerin? Wenn überhaupt, kennen wir sie als Mutter Wolfgang Borcherts, die ihr Leben in den Dienst des Werks ihres Sohnes stellte. Und so sieht sie sich in dem vorliegenden Zitat ja auch selbst. Aber ist damit ihre ganze Persönlichkeit beschrieben? Wer war Hertha Borchert?
Hertha Salchow wurde am 17. Februar 1895 in den Vierlanden im Schulhaus in Altengamme als fünftes Kind des dortigen Lehrers Carl Salchow geboren. Bald zog die Familie ein Stück weiter in das Schulhaus in Kirchwerder. Hertha war der Nachkömmling der Familie, eine uninteressierte und schlechte Schülerin, die aber als Einzige in der Familie ein echtes Vierländer Platt beherrschte. Sie liebte die Landschaft und die Menschen ihrer Heimat.
Als der Junglehrer Fritz Borchert aus Mecklenburg auftauchte, war Hertha ganze 16 Jahre alt. Die beiden verliebten sich ineinander, und Hertha machte die beglückende Erfahrung, dass es einen Menschen gab, der sich nicht daran störte, dass sie selbst in der Dorfschule kaum mitgekommen war: „Ja, es war ein Ereignis geschehen, und das Ereignis war gravierend und umwälzend, ich war nicht mehr allein. Und das war für mich das Außergewöhnliche an diesem Ereignis, daß Wissen und Nichtwissen kleingeschrieben war, denn das Ereignis hatte mich gewählt, so wie ich war“,[2] schreibt Hertha Borchert in ihren Lebenserinnerungen. Bald merkte sie jedoch, dass es etwas für ihn gab, an dem sie keinen Anteil hatte: die Welt der Bücher. Er versuchte, sie durch Vorlesen behutsam an diese Welt heranzuführen, sie versuchte, ihn darüber zu täuschen, dass sie sich dabei langweilte. Dennoch war da so viel Gemeinsames, dass sie beschlossen, zu heiraten.

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Hertha Borchert mit Sohn, Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Die Aufnahme im Haus der zukünftigen Schwiegereltern war so unfreundlich, dass das junge Mädchen einen Schock erlitt, der sich über viele Jahre in zeitweiligen Zuständen der Apathie wiederholte. Aber auch die eigenen Eltern zeigten wenig Begeisterung, weil Hertha zu jung und Fritz ohne feste Anstellung war. Sie verlangten eine Wartezeit von zwei Jahren, in der Hertha eine Haushaltsschule in Winsen besuchte, um Kochen und Nähen zu lernen, und Fritz Borchert in einer Volksschule in Hamburg-Eppendorf unterrichtete, wohin er auf Veranlassung von Herthas Vater versetzt worden war. Am 29. Mai 1914 war es dann soweit: Im Schulhaus wurde eine große Hochzeit gefeiert. Danach zog das Paar in die Tarpenbekstraße 82 in Hamburg-Eppendorf, wo später auch der Sohn Wolfgang geboren wurde. Für die junge Frau begann ein neues Leben.
Nicht ohne ein gewisses Zaudern hatte sie die ländliche Umgebung gegen eine Etagenwohnung im Hamburger Stadtgebiet getauscht, die „Lüd’ vun’n Diek“[2] gegen den Freundeskreis ihres Mannes: die Maler Paul und Martin Schwemer, den Barlach-Freund Friedrich Schult, den Bildhauer Opfermann, den Pädagogen und Schriftsteller Höller und Karl Lorenz, den Graphiker, Schriftsteller, Dadaisten und Gründer der Zeitschrift „Die rote Erde“, in der u.a. expressionistische Autoren und Maler veröffentlichten. Sie fühlte sich wohl in diesem Boheme-Kreis, wollte mitreden können. Sie begann – zunächst in halbstündigen Etappen – sich durch die gesamte Geschichte durchzukämpfen, angefangen bei der Völkerwanderung! Dann machte sie sich an die Literatur, las querbeet Droste-Hülshoff, Dehmel, Falke, Tieck, Hölderlin, Stifter und lernte Dada-Gedichte auswendig, weil sie die am leichtesten behalten konnte. Ihr Mann war ihr ein unermüdlicher Helfer, kein Lehrer, ein formender Künstler, wie sie schreibt.
Der Erste Weltkrieg brach aus. Fritz Borchert musste wegen einer Sehschwäche zwar nur als Sanitäter ins Hinterland, ruinierte seine Gesundheit aber dennoch. Die Welt der Kunst wurde für das Ehepaar zum „Fluchtpunkt und Ausweg“.[2] Sie erwarben ein Erstaufführungsabonnement für die nach Kriegsende als Alternative zum Schauspielhaus gegründeten Hamburger Kammerspiele am Besenbinderhof, wo vornehmlich zeitgenössische, oft avantgardistische Theaterstücke gespielt wurden, und traten dem „Freundeskreis der Hamburger Kammerspiele“ bei. Ein neuer Kreis um den Schriftsteller und Redakteur der „Hamburger Zeitung“ H.W. Fischer, zu dem der Bildhauer Wield, die Tänzerinnen Jutta von Collande, Gertrud und Ursula Falke, der Dichter Robert Walter und Carl albert Lange gehörten, öffnete sich ihnen. Man las gemeinsam moderne Dramen und diskutierte. Was Hertha Borchert schon im Umfeld Schwemers gewundert hatte, verstand sie auch hier nicht: Was fanden alle diese Künstlerinnen und Künstler an ihnen, dem bürgerlichen Paar, dass sie als Freunde betrachteten?
Im siebenten Ehejahr meldete sich das langersehnte Kind an: „Ich war längst nicht mehr das frische Landmädchen. Ich war blaß geworden und sehr empfindsam. Es wurde deutlich, daß ich diese 7 Jahre zu meiner Entwicklung gebraucht hatte.“[2]
Mit der Geburt des Sohnes Wolfgang am 20. Mai 1921 begann die wohl glücklichste Zeit im Leben Hertha Borcherts, wie sie aus dem Rückblick meint. Man lebte sehr nahe zu dritt beieinander, der Freundeskreis kam jetzt ins Haus. Die Bildhauerin Lola Töpke, die später von den Nazis, vermutlich am 06. Dezember 1941, nach Riga deportiert wurde, regte Hertha Borchert zum Modellieren in Ton an. Glaubte sie zunächst nicht an ihr Talent, arbeitete sie bald nächtelang wie besessen.
Dann kam Wolfgang in die Schule, sie war vormittags wieder allein, fühlte sich einsam. Hinzu kam die Bangsche Krankheit, die sie sich auf einer Ferienreise durch das Trinken roher Milch zugezogen hatte und die sie oft, isoliert von der Außenwelt, fiebernd ans Bett fesselte. Bilder der Heimat tauchten auf. Die Anschaffung eines Schrebergartens bot keine Lösung, die körperliche Arbeit war zu schwer für Fritz und Hertha Borchert. Als der Freund Paul Schwemer mit Erleichterung das Scheitern des in seinen Augen ohnehin lächerlichen Unterfangens konstatierte, fing Hertha Borchert an, von ihrer Kindheit zu erzählen, von der Landschaft, von den Menschen und ihrer Art zu leben. Die beiden Männer hörten zunehmend gebannt zu, und Fritz Borchert beschwor seine Frau nicht nur, diese Geschichten aufzuschreiben, sondern schickte eine davon heimlich an die „Hamburger Nachrichten“, wo sie am 04. Dezember 1927 erschien: „Und ich schrieb in meiner Heimatsprache, wie ich dort draußen mit den Leuten sprach. Ich schrieb ganz hilflos in ein Schulheft – und diese erste Geschichte wurde gedruckt...Mir war nun geholfen. Ich vergaß die engen Zimmer und schrieb und trieb mich mit meinen Gestalten draußen an den Deichen herum.“[2] In der Folge entstanden unzählige Geschichten, Gedichte, und Hörfolgen auf Plattdeutsch, die im „Quickborn“ und in der „Mooderspraak“ gedruckt oder im Rundfunk ausgestrahlt wurden. Hertha Borchert gehörte fortan zu dem anerkannten Kreis niederdeutscher Schriftsteller.
Mit diesem Erfolg wandelte sich auch das Umfeld: Aline Bußmann, Schauspielerin an der Niederdeutschen Bühne, die Hertha Borcherts Texte im Rundfunk las, Bernhard Meyer-Marwitz und Hugo Sieker, Redakteure des „Hamburger Anzeigers“, waren die neuen Freunde, die sie sich mit ihrem Mann teilte: „Den Niederdeutschen Kreis hatte ich mir gewählt und in ihm stand man still und verläßlich auf der Erde. Und doch war dies die Welt, in der ich schöpferisch werden sollte. Mein Mann wurde jetzt Betrachter. Immer war er sonst der Initiator gewesen. Er war für mich mein Halt und die Geborgenheit. Die verbindende Atmosphäre blieb unangetastet. Das Leben spannungsgeladen hatte uns umgeformt, aber zu viel trug ich von ihm und eigentlich ging ich jetzt den sehr eigenen Weg, den er mir gebahnt hatte.“[2] Sie wurde in die GEDOK (Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen) aufgenommen, ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte Hertha Borcherts Leben zunächst nicht einschneidend. 1934 erschienen sechs unpolitische heitere Erzählungen unter dem Titel „Sünnroos un anner Veerlanner Geschichten“ im 48. Band der Reihe „Plattdütsch Land und Waterkant“, die ein gutes Lebensbild der Zeit geben.[3] 1936 dann wurde Hertha Borchert von einem missgünstigen Nachbarn, der lieber seine eigenen Arbeiten veröffentlicht sehen wollte, denunziert. Die Sache verlief glimpflich, es wurde Hertha Borchert jedoch nahegelegt, in die „Nationalsozialistische Frauenschaft“ einzutreten. Fortan hielt sie Lesungen in Ortsgruppen und reiste, als der Krieg ausgebrochen war, zwecks Truppenbetreuung wochenlang durchs Land. Der Sohn Wolfgang war inzwischen längst in die Fänge des nationalsozialistischen Machtapparats geraten. Schon im Frühjahr 1940 wegen des Verdachts der Homosexualität vorgeladen, wurde er 1942 wegen einer Verletzung an der linken Hand, die als Selbstverstümmelung an der Front ausgelegt wurde, unter Anklage gestellt, dann aber freigesprochen. Noch im selben Jahr wurde er in einem zweiten Prozess wegen mündlicher und brieflicher Äußerungen, die als Angriff auf den Staat gewertet wurden, zu vier Monaten Haft verurteilt.
1943, kurz vor seiner Entlassung als Frontuntauglicher aufgrund fortdauernder schwerer Krankheit, wurde er dann wegen einer Parodie auf Goebbels in der Jenaer Kaserne erneut eingesperrt. Die Eltern versuchten ihn durch Besuche zu stärken und ihm beizustehen.
Als am 10. Mai 1945 die Nachricht kam, Wolfgang sei aus französischer Gefangenschaft geflohen und habe sich bis zur Elbe durchgeschlagen, machte sich Hertha Borchert auf den Weg in die Vierlande. Als sie ihren Sohn auf dem Elbdeich sah, erkannte sie ihn nicht. Schwerkrank kehrte er nach Hause zurück. Die Familie wohnte seit der Denunziation durch den Nachbarn in Alsterdorf, in der Mackensenstraße 80 (heute Carl-Cohn-Straße). Nach Monaten des Hoffens und Bangens starb Wolfgang Borchert am 20. November 1947, einen Tag bevor sein Theaterstück „Draußen vor der Tür“ in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde.
„Ich pflegte ihn zwei Jahre lang, und die Sorge um ihn schlug mir die Feder aus der Hand. Aber dafür blühte sein Werk auf. Er arbeitete mit einem fieberhaften Eifer, sodaß in unserer Wohnung für nichts anderes Raum war. Es war ein Erlebnis, ihm beim Schreiben zuzusehen. Jedes Wort, das er schrieb, war Befreiung aus innerster Not. Er zwang uns, sein Leben mitzuleben, und weil es so schnell und steil hinaufging, nahm es uns allen den Atem. Nach Wolfgangs Tod bleibt uns nur die Aufgabe, nach der Fülle dieses Schmerzes und dieses Glückes den Rest unseres Lebens auszurichten und unseres Sohnes Anklage an die Welt weiterzugeben“,[4] beschrieb Hertha Borchert 1948 ihre Profession. Die Eltern besuchten gemäß dem Vermächtnis ihres Sohnes anfangs fast alle Aufführungen von „Draußen vor der Tür“. Sie empfingen Besucherinnen und Besucher aus aller Welt, die ihnen nahe sein und von ihrem Sohn Wolfgang hören wollten, und folgten deren Einladungen.
Der Biograph Wolfgang Borcherts, Claus B. Schröder,[5] beurteilt das Verhältnis von Mutter und Sohn nicht so harmonisch. Aus dem Sachverhalt, dass die Trennung von der Mutter ein zentrales Motiv in den Dichtungen Wolfgang Borcherts ist, besonders der Text „Meiner Mutter zu meinem Geburtstag“, den er in der Nacht zu seinem 25. Geburtstag schrieb, schließt Schröder auf einen realen Mutter/Sohnkonflikt, eine nie wirklich gelungene Loslösung von der Mutter. Aber schon die Tatsache, dass das Motiv der Mutter bei Borchert zumeist mit dem Motiv der Geliebten verknüpft ist, lässt eher an die Sehnsucht nach einem paradiesischen Zustand des Einsseins denken, die leicht nachvollziehbar ist bei einem so jungen und sensiblen Mann, den die männerbündlerisch-faschistische Ideologie abstieß und der sich vollkommen isoliert fühlte.
Nach dem Tode ihres Mannes 1959 wusste Hertha Borchert zunächst nicht, wie es weitergehen sollte, doch bald sammelte sie ihre Kräfte und ging den gemeinsam begonnenen Weg im Dienste des Sohnes weiter: „Un winn se hier in `n Hus bie mi ankloppt, kummt Wolfgang jümmer weller mit jüm rin de Dör. So sünd se jümmer oberall dor mit bie, mien Jung und sien’ Vatter. Ook op de anner Siet vun uns Erd’, dor weuren se ook beide an mi, un ick nich alleen.“[1]

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Grab für Wolfgang, Fritz und Hertha Borchert, Quelle: Verein Garten der Frauen e. V.

Am 26. Februar 1985, neun Tage nach ihrem 90. Geburtstag, starb Hertha Borchert. Anlässlich der für sie gehaltenen Trauerfeier in der Kirchwerder Kirche St. Severin schrieb die „Bergedorfer Zeitung“: „Hertha Borchert blieb im Herzen stets Vierländerin.“
Mindestens genauso aber war sie Teil der großstädtischen Künstlerkreise der zwanziger Jahre gewesen. Sie war dort nicht nur gern gesehen, sondern hatte sich auch ihrerseits sehr wohlgefühlt.
Ihre letzte Ruhestätte fand Hertha Borchert auf dem Ohlsdorfer Friedhof neben ihrem Mann und ihrem Sohn – „am leichten Hang, nicht in Reih und Glied gezwungen“.
So sehr sie für das Werk ihres Sohnes eintrat, einer Veröffentlichung seiner frühen Dramen hat sie dennoch die Zustimmung verweigert – mit dem Hinweis, dass das nicht im Sinne ihres Sohnes gewesen wäre. Sie sind bis heute nur im Wolfgang-Borchert-Archiv einzusehen, womit der Nachwelt ein ganz anderer Wolfgang Borchert vorenthalten wird, nämlich der, der viel Sinn für Situationskomik, Wortwitz und Kabarettistisches hatte.
Text: Brita Reimers