Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Christina Sophie Reimarus Christina Sophie Reimarus, geb. Hennings

(14.4.1742 Pinneberg – 30.9.1817 Hamburg)
Mittelpunkt des „Theetisches“ im Hause Reimarus
Fuhlentwiete 122 (Wohn- und Wirkungsadesse), heutige Adresse: Stadthausbrücke. Das Haus stand in ihrem unteren Abschnitt, auf der Höhe der Baubehörde.
Fuhlsbüttler Straße 756, Ohlsdorfer Friedhof Grab Nr. S 25, 1-10


3539 Christiane Sophie Louise Reimarus
Quelle: Museum für Hamburgische Geschichte

„Hier kommt und geht, wer will, und denkt auch, was er will, und sagt es ziemlich dreist, und niemand kümmert sich darum.“[1] Die hier spricht und Toleranz und aufgeklärten Geist verrät, ist Sophie Reimarus, „die Doktorin“ – Tochter des Pinneberger Staatsrats Martin Hennings, der ihr eine ausgezeichnete Ausbildung angedeihen ließ, Schwester des bedeutenden Aufklärers August Hennings, zweite Ehefrau des nicht weniger angesehenen Arztes und Gelehrten Johann Albert Heinrich Reimarus, Schwägerin der klugen und gebildeten Elise Reimarus, die mit Lessing und Mendelssohn im Briefwechsel stand und selbst schrieb und übersetzte, Stiefmutter Hannchen Sievekings, die ein großes Haus und nach dem Tod des Ehemannes auch das Handelshaus führte.
Und wovon spricht sie? Von ihrem „Theetisch“, der einer der zentralen Orte der Hamburger Aufklärung und Anziehungspunkt für zahlreiche fremde Besucher der Stadt war. Hier herrschte Offenheit, Herzlichkeit und ein ganz auf geistige Genüsse gerichteter Sinn. Mehr als einen Tee hatten die Besucherinnen und Besucher kaum zu erwarten. Der Archäologe, Altphilologe und Schriftsteller Karl August Böttiger nannte die Familie Reimarus den „Licht- und Mittelpunkt des geistigen Hamburg“, und weiter: „Nichts ist in der That fröhlicher und genußreicher als eine Theetischconversation im Kreise dieser Familie, zu der ich während meines Aufenthalts in Hamburg so oft eilte, als ich mich anderswo wegschleichen konnte. Während Vater Reimarus im Kaftan und mit Pfeife bald mit einsitzt, bald in dem benachbarten Zimmer Arzneien zubereitet, aber auch von daher durch die geöffnete Thür den Faden des Gesprächs festhält und oft seine Bejahung oder Verneinung mit vorgestrecktem Kopfe hereinruft, sitzt die Mutter Reimarus am dampfenden Theeständer, ihr zur Seite die ehrwürdige Elise und zwei unverheiratete Töchter des Doctors.“[2]
Piter Poel, Schriftsteller und Herausgeber des „Altonaischen Merkur“, beschreibt den Zirkel folgendermaßen: „...wenige Tage in der Woche vergingen, wo nicht ihr in so manchen gedruckten Briefen und Reisebeschreibungen gepriesener Theetisch der Sammelplatz fremder und einheimischer Gelehrter und wißbegieriger junger Leute wurde. Der Mann (J.A.H. Reimarus), welcher um dieses Tageszeit kaum andere Besuche als bei gefährlichen (gefährlich erkrankten) Patienten machte, arbeitete dann in seinem anstoßenden kleinen Bibliothekszimmer, dessen Thüren offen standen, so daß er an der Unterhaltung teilnehmen konnte.
Der Ort dieser anspruchslosen, aus wechselnden Gästen zusammengesetzten Vereinigung ist in Deutschland berühmter geworden, als manche Akademie, und ich zweifle, ob bei gleicher Lebendigkeit im Austausch der Gedanken über die verschiedenartigsten Gegenstände und dem vorherrschenden Witz und der Wohlredenheit der französischen Gelehrten in den gepriesenen Abendgesellschaften der Frau Géoffrin in Paris der Geist der Anwesenden eine befriedigendere Nahrung gefunden und in eine so heitere Stimmung versetzt worden ist, als hie runter dem Vorsitze einer vielfältig gebildeten und gewiß nicht minder geistreichen Wirtin. Diese verstand es meisterhaft, die verborgenen Schätz eines jeden zu Tage zu fördern, dem Gespräche eine so mannigfache Wendung zu geben, daß es keinem an Gelegenheit fehlte, seinen Beitrag dazu zu liefern, dem Schüchternen Selbstvertrauen einzuflößen und ihm über Verlegenheiten wegzuhelfen.“[3] Als der Pädagoge, Jugendschriftsteller und Buchhändler Joachim Heinrich Campe 1791 die Hamburger Freunde von Braunschweig aus besucht hatte, schrieb er an Sophie Reimarus: „Wir saßen einmal wieder an Ihrem traulichen Teetisch: Sie, Elise und meine Frau auf dem Sofa, rechts die guten Sievekings, links die kleine Welt von Christinchen, Herrmann und Lotte, in der Mitte, Ihnen gegenüber der liebe Doktor und ich, beide die Friedens- und Freiheitspfeife rauchend. Was da nicht alles aus dem Herzen heraus und in das Herz hinein geredet wurde! Was wir da nicht alles verhandelten, erörterten und an seine rechte Stelle setzten! Sie alle taten ihre sechsjährige Sparbüchse von neuen Gedanken, Bemerkungen und Empfehlungen auf, wir legten unsre paar erübrigten Pfennige hinzu – es war ein Seelenpicknick! Wie das uns behagte, denen schon so lange so was nicht geboten war!“[1]
Und Lessing, als Bibliothekar nach Wolfenbüttel verschlagen, schrieb an die Freundin Elise Reimarus nach einem Besuch in Hamburg Anfang November 1780: „Wer in dieser Gesellschaft hätte bleiben können! – Wer aus dieser Gesellschaft nur einen einzigen hier hätte!“ An diesen Kreis dachte vermutlich auch August Hennings, als er die Hamburger gegenüber den diplomatischen Zirkeln Berlins lobte: „Man ging(e) ins Schauspiel, um zu sehen, nicht um gesehen zu werden. Eine vollständige Gleichheit machte die Gesellschaft allen gemütlich. Der Zufluß der Fremden verbreitete den Austausch der Kenntnisse.“[1]
Ähnlich wie ihre Schwägerin Elise war Sophie eine außerordentlich geistvolle und gebildete Frau. Piter Poel schreibt über sie: „Ihr Geist mit allen seinen Kenntnissen war ein ganz weiblicher geblieben, er hatte sich nur angeeignet, was brauchbar im Leben zum Nutzen oder zur Verschönerung war und sich in kursierende Münze umsetzen ließ. Sie verschlang alles Neue, philosophische und historische Werke wie Gedichte und Romane, und faßte im Fluge die vorzüglichsten Schönheiten, merkwürdige Züge und hervorstechende Gedanken auf, die sich in ihrem Kopfe mit Leichtigkeit ordneten und einen reichen Stoff zu mündlicher und schriftlicher Unterhaltung hergeben, doch immer natürlich herbeigeführt und mit ihren eigenen Ansichten verschmolzen.“3 Wilhelm von Humboldt rühmt 1796 in seinem Reisetagebuch ihren „im hohem Grade gebildeten Verstand, und eine sehr heitere und angenehme Laune im Umgang“ und notiert weiter: „Sie soll ein außerordentliches Talent zu der leichten Gattung des Stils haben, und über die Vortrefflichkeit ihrer Briefe herrscht nur Eine Stimme.“[4] Ein Blick in ihre unveröffentlichten Briefe an den Bruder im Hamburger Staatsarchiv bestätigt das.[5] Es sind gescheite und schlicht formulierte Dokumente ihrer Gedanken zu Politik, Philosophie und Literatur.
In ihren Berichten von der Teegesellschaft zeichnet sie mit wenigen Sätzen plastische Portraits der Besucher, beispielsweise von Catharina Stolberg, den Dichtern und Schriftstellern Klopstock, Gleim, Jens Immanuel Baggesen, Jakob Mauvillon, dem Freund Mirabeaus, Lavater, dem Pädagogen Johann Bernhard Basedow, den Philosophen Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi sowie dem Kaufmann Caspar Voght. Immer sind ihre Ansichten und Urteile geprägt von Vernunft und Maß. Schwärmerei und romantischen Tendenzen steht sie voller Skepsis gegenüber, hier können ihre Urteile auch einmal hart und scharf ausfallen. So mokierte sie sich beispielsweise in drastischer Form über Caspar Voghts Eitelkeit, als er sich mit dem Etatsratstitel, dem Eintrittsbillett in den Adel, schmückte. Und in einem Brief an den Kaufmann Sulpiz Boisserée fragte sie: „Aber auf welche Universität wollen sie dann ziehen? Jena hat seit einiger Zeit seine berühmtesten Männer verlohren und unter den bösen Phenomenen der Schellingschen Philosophie gehört wohl auch diese Gährung. Wenn nun diese ledigen Lehrstühle mit den Schlegeln und Tieck besetzt, und von Jacob Böhme beschützt werden, wird es vollens junge Köpfe verdrehen. Seit Kurzem sind uns 3 Junge Herren vorgekommen, die halbtot, wenigstens zu allem nützlichen verdorben waren.“[4]
Und auch die anfängliche Revolutionsbegeisterung – ausführlich hatte Sophie ihrem Bruder von der Revolutionsfeier bei Sievekings berichtet und sich später begeistert über den Mainzer Jakobinerklub geäußert – schlug bald um. Mitte Dezember 1792 schrieb sie in einem Brief an den Bruder: „Nein, die Franzosen sind keine Nation, mit der man sich brüderlich verbinden kann! ... Gute Freiheit, warum bist du nicht in andere Hände gefallen!“[6] Und in einem Gedicht pries sie wie viele von der Revolution enttäuschte Zeitgenossen den Rückzug ins Private, Überschaubare, Geordnete:
Ein grausenvolles Zeitungslesen
Zerstört oft unser ganzes Wesen,
Kein Aufblick froher Zuversicht:
Die schöne Hofnung bessrer Zeiten,
Der Traum von nahen Seligkeiten
Sinkt wie ein umgeworfnes Licht.
Den schönen Traum von ErdenGlück.
Was gute Menschen kaum begannen
Sinckt schrecklich hin durch VolksTyrannen,
Wer wagt der Hoffnung LebensBlick.
Das Morgenroth in Nacht zurück.

Hinweg denn mit dem großen Träume
Die Freiheit haußt im engen Raume
Wohnt in der Brust der Redlichkeit
Sie wohnt in unserm kleinen Zimmer
Und unser Theetisch sey ihr immer
Zum bleibenden Altar geweiht.[7]

Sophie Hennings hatte im Alter von 28 Jahren, am 08.06.1770, den Arzt, Naturforscher und Philosophen Johann Albert Heinrich Reimarus geheiratet. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie von Pinneberg nach Hamburg gereist war, um sich der von ihm in Hamburg eingeführten Pockenimpfung zu unterziehen. Zu Hannchen, der Tochter aus der ersten Ehe ihres Mannes, gesellten sich 1771 die Tochter Christine, sie später den französischen Gesandten in Hamburg, Karl Reinhard, heiratete, und 1774 der Sohn Herrmann, der Kaufmann wurde. Die Familie lebte in der Fuhlentwiete, in einem Haus mit Garten und einem Kastanienbaum, in dem man die Vögel singen hörte. Der Tagesablauf im Hause Reimarus, den Piter Poel beschreibt, bestätigt noch einmal die geistige Beweglichkeit und Bildung Sophie Reimarus’: „Der Theetisch vereinigte die Gatten früh morgens, dann im Laufe des Vormittags, wenn der Mann sich ein halbes Stündchen von seinen Patienten abmüßigen konnte, und nach dem Abendessen, selbst wenn sie erst spät aus der Abendgesellschaft nach Hause gekommen waren. Dann hatte sie immer Journale in Bereitschaft mit den angemerkten Stellen, die ihn der Mühe überhoben, das Ganze durchzulesen, oder sie trug mündlich ihm vor, was ihn auf andre Weise erfreuen konnte.“[3]
Wie sehr sich ihre Wesensart von der ihrer Stieftochter Hannchen unterschied, die die Seele eines anderen namhaften gesellschaftlichen Treffpunkts im Hamburg jener Zeit war, zeigt die folgende Begebenheit: Als das Sievekingsche Handelshaus 1811 Konkurs gemacht hatte, bat Hannchen ihren Vater, ins Elternhaus zurückkehren zu dürfen: „Ich will mein Kinderleben wieder anfangen, will Papa mich bei sich aufnehmen?“ Sophie Reimarus’ Antwort: „Gutes Kind, Du hast nie aufgehört, es zu führen; denn rein und kindlich ist dein Leben immer gewesen.“[1] Diese kindliche Liebe sollte Sophie Reimarus in besonderem Maße zuteil werden, als sie bettlägerig wurde und Hannchen sie aufopfernd bis zu ihrem Tode pflegte. Sophie Reimarus starb drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, am 30. September 1817. Als Leichenrede wollte sie nur das Wort: „Sie traute der Menschheit, und wer kannte wohl auch bessere Menschen als ich.“[1]
Eine umfassende Charakteristik von Sophie Reimarus gab der dänische Diplomat und Schriftsteller Johann Georg Rist und setzte ihr damit in seinen Lebenserinnerungen ein wahrhaftes Denkmal: „Kräftiger, irdischer möchte ich sagen, weder der Liebe noch dem Hasse fremd, geistreich in einem Grade, wie eine deutsche Frau nur sein darf, voll der lebhaftesten Teilnahme an allem, wofür ihr Mann lebte und manchem weltlichen Interesse außerdem, aber treu und fromm und begeistert für alles Große und Treffliche, auch eine Feindin jeglicher Gewalt und Willkür, ratend und helfend, und aus langgesammelter, reicher Erfahrung spendend, – saß die schwer gestaltete, unbehilfliche Gattin dem dürren Greise gegenüber, der ab und zu gehend, mit bescheidener Pfeife, bald im Kabinette Arzenei bereitete, bald aus der wohlgeordneten Büchersammlung ein belehrendes Werk über einen fraglichen Gegenstand holte, bald seiner treuen Vorleserin zuhörte, die mit beispielloser Schnelligkeit und Begehrlichkeit jede neue literarische Erscheinung durchlief, um für ihn die besten Stellen auszusondern. Wie freundlich grüßte sie von ihrem schwarzen Sofa den eintretenden Besucher; wie heiter und geistreich wußte sie das Gelesene oder Gehörte mitzuteilen, wie fein und scharf ihm, was er wußte und hatte, abzufragen, wie dringend das Verdienst oder das Unglück zu empfehlen!
Mit mäßigen Mitteln und löblicher Sparsamkeit wußte sie ein Haus zu machen, wie seitdem keines wieder in Hamburg seine Türen aufgetan hat, in dem sich von nah und fern, alles, was sich zu den Gelehrten und Freunden der Wissenschaft rechnete, wie von rechtswegen versammelte und einheimisch fühlte. Der Freitag-Abend war ihr eigentlicher Tag, wo ich nicht gern fehlte und ungern vermißt wurde. Da war Scherz und Ernst, Vorzeit und Gegenwart freundlich verschmolzen. Diese treffliche Frau hat mir insonderheit viele Güte und Teilnahme erwiesen. Wenige Jahre nach ihres Gatten Tod bin ich ihr dankbar und gerührt zu Grabe gefolgt. In ihrer viele Jahre durchgeführten Korrespondenz mit ihrer Tochter Stinchen Reinhard und in manchem kleinen poetischen Erguß sind den Ihrigem Denkmale ihres seltenen Geistes und Gemüts geblieben.“[8]
Seit 1902 gibt es in der Hamburger Neustadt die Reimarusstraße, benannt nach Hermann Samuel und Johann Albert Reimarus. 2001/2002 wurde die Namensgebung ergänzt um die ebenso bedeutende Tochter und Schwester Elise Reimarus.
Text: Brita Reimers