Dorothea Kasten
(6.3.1907 Hamburg – 2.5.1944 in der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ in Wien)
Opfer der NS-Euthanasiemaßnahmen.
Caspar-Voght-Straße 79 (Wohnadresse), Stolperstein
Namensgeberin für: Dorothe-Kasten-Straße in Hamburg-Alsterdorf seit 1993
„Wenn mich jetzt keiner wegbringt, bringe ich mich selber weg.“ Mit diesen Worten drückte Dorothea Kasten aus, wo sie sich zu Hause fühlte: in den Alsterdorfer Anstalten. Dort war sie wegen einer geistigen Behinderung untergebracht. Wurde ihr ein Urlaub zu lang, forderte sie die Rückkehr auf ihre Weise.
Dorothea Alma Elise Marie Kasten wurde am 6. März 1907 in der Wohnung ihrer Eltern in der Sachsenstraße 96 in Hamburg-Hammerbrook geboren. Sie war das erste Kind von Friedrich Adolf Heinrich Kasten, Buchhalter von Beruf, und seiner Ehefrau Dorothee Margarete Karoline, geb. Lange. Beide Eltern stammten aus kinderreichen Familien und gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an. Im Alter von drei Monaten wurde Dorothea in der St. Katharinen-Kirche getauft. Ein Jahr nach ihr kam die Schwester Hildburg zur Welt.
Dorothea, genannt Thea, war von Geburt an krank, doch lernte sie mit eineinhalb Jahren Laufen und mit zwei Jahren Sprechen. An Infektionskrankheiten machte sie Masern und Keuchhusten durch. Sie wurde in die Volksschule eingeschult und besuchte sie bis zur dritten Klasse, was der heutigen sechsten entspricht. Sie ging gern zur Schule. Außer Rechnen gefielen ihr alle Fächer. Sie behielt den Stoff und konnte das Gelernte anwenden.
Als sie acht war, machte sich eine Wirbelsäulenerkrankung bemerkbar, die trotz einer zweijährigen orthopädischen Behandlung zur Bildung eines Buckels führte.
Nach ihrer Entlassung aus der Schule im Jahr 1921 lernte sie ein halbes Jahr lang in einem Kinderheim in Springe am Deister Hauswirtschaft: Kochen, Backen, Schneidern. Im Anschluss daran arbeitete sie ein Jahr lang unter der Leitung einer Schwester Hedwig in einer Kinderkrippe in Hannover, eine Tätigkeit, die sie sehr befriedigte und zu der sie gern zurückgekehrt wäre, als sie wieder zuhause lebte. Dorothea wollte gern, wie ihre Schwester, die als Krankenschwester im Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf lebte, einen „freien Beruf“ haben, in dem sie mit Kindern arbeiten könne. Sie gab ihren Eltern die Schuld, dass sie dafür nicht genug gelernt habe.
Dorothea spielte Klavier und Harmonium und schloss sich dem Jungmädchenverein von Pastor Hagedorn in Dulsberg an, wo die Familie nun in der Angelnstraße lebte. Während sie im Umgang mit anderen Personen sehr freundlich war, war sie gegenüber ihren Eltern aufsässig bis dahin, dass sie ihre Mutter tätlich angriff. Ihre Stimmung schwankte zunehmend, sie wurde unselbstständig und musste ständig beaufsichtigt werden, um Selbstverletzungen zu vermeiden. Als die Belastung für ihre Mutter zu groß wurde, kam als Ausweg Dorotheas Unterbringung in einer Anstalt in Frage.
Am 15. Juli 1931, 24 Jahre alt, wurde sie erstmals in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Die ärztliche Untersuchung ergab eine Mikrocephalie, eine Kleinköpfigkeit und einen „Schwachsinn mittleren Grades“. Trotz ihrer geistigen Behinderung konnte sie kleine Arbeiten verrichten, z. B. half sie den Schwestern beim Frühstück und spielte gern Harmonium. Ihre Mutter besuchte sie häufig, und Dorothea wurde regelmäßig nach Hause beurlaubt. Zunächst trug der Vater die Kosten von drei Reichsmark täglich für die Unterbringung. Da er aber auch noch für seine Mutter und die Tochter Hildburg aufzukommen hatte, bat er im September unter Hinweis auf Dorotheas Arbeitsfähigkeit um eine Ermäßigung auf zwei Mark. Der Antrag wurde genehmigt. Im Mai 1932 holten die Eltern Dorothea auf eigenen Wunsch nach Hause.
Zehn Monate später, einen Tag nach ihrem 26. Geburtstag, kehrte Dorothea in die damaligen Alsterdorfer Anstalten zurück. Im Mädchenheim, wo sie nun untergebracht wurde, arbeitete sie in der Küche beim Abwasch und Kartoffelschälen, ganz zur Zufriedenheit des Pflegepersonals. Gern spielte sie auch hier Harmonium. Dem Erbgesundheitsgesetz entsprechend, erstellte der Oberarzt der Anstalt, Gerhard Kreyenberg, ein Erbgesundheitsgutachten, bei dem es auch um die Frage der Sterilisierung ging. Es hatte keine persönlichen Folgen für Dorothea, da sie ständig unter Aufsicht stand, entweder in der Anstalt oder Zuhause. Ihr Weihnachtsbesuch 1933 bei den Eltern, die inzwischen nach Hamburg-Hamm gezogen waren, wurde ihr trotz einer allgemeinen Urlaubssperre gestattet, wenn auch verkürzt.
Gute Phasen wechselten mit schlechten, in denen sie widerspenstig war und sich selbst Scheuerwunden zufügte. Dann wurde sie zu ihrem Selbstschutz in den Wachsaal gebracht, wo es eine Aufsicht gab. Sie schaffte dann auch ihre Körper- und Kleiderpflege nicht mehr allein. Am 15. August 1934 holten ihre Eltern sie wieder nach Hause.
Dorothea äußerte Anfang des Jahres 1935 großes Heimweh nach Alsterdorf und wurde am 20. März zum dritten Mal aufgenommen. Ihr Verhalten blieb unausgeglichen, sie wurde wie zuvor behandelt. Am 12. Oktober 1936 wurde sie noch einmal nach Hause entlassen, kehrte aber bereits vor Monatsende in die Anstalt zurück.
Am 16. August 1943 wurde Dorothea Kasten zusammen mit 227 anderen Frauen und Mädchen direkt aus den Alsterdorfer Anstalten in die Heilanstalt Wagner-von-Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, den früheren Steinhof, verlegt. Der Anstaltsleitung ging es neben der Erfüllung der erbhygienischen Vorgaben der Reichsführung konkret darum, Platz für Bombenopfer zu schaffen. Als sich herausstellte, dass die ausgebombten Hamburger im Umland unterkamen, war die Transportmaschinerie schon angelaufen und wurde nicht mehr gestoppt. Die Wiener Heilanstalt diente der „stillen Euthanasie“, nachdem die erste Phase der Euthanasie 1941 wegen öffentlicher Proteste beendet worden war. Nicht zwangsläufig alle Neuzugänge aus Hamburg wurden der „Euthanasie“ unterworfen; wer arbeitsfähig war, blieb am Leben.
Wie aus einem Brief ihrer Schwester Hildburg hervorgeht, den diese 1985 an die Evangelische Stiftung Alsterdorf schrieb, fuhr im Mai 1944 Dorothea Kastens Mutter nach Wien, um ihre Tochter zu besuchen. Sie habe sie in einem erbarmungswürdigen Zustand vorgefunden. Von 49 kg Körpergewicht bei ihrer Abreise sei sie auf 33 kg abgemagert gewesen. Dorothea habe gewollt, dass ihre Mutter sie mit zurück nach Hamburg nähme. Die Anstaltsärzte hätten das nicht zugelassen. Sie hätten der Mutter erklärt, dass Dorothea an einer Darmfistel leide und am besten eingeschläfert würde. Am 2. Mai 1944 hat „nach hartem Kampf … meine Mutter eingewilligt, ihr Kind in die geistige Welt zurückzuschicken. (Sie) kaufte für alle Kuchenmarken Süßigkeiten und Kuchen. Sie tranken zusammen Kaffee. Um 14.00 Uhr, … nachdem sie mit Freude und Vergnügen ihren Kuchen aufgegessen hatte, meinte sie: ‚Jetzt bin ich müde und will schlafen, vergiss nicht, mich mitzunehmen.‘“
Frau Kasten konnte ihre Tochter im Sarg mit nach Hamburg nehmen und beerdigen.[1]
Text: Hildegard Thevs, entnommen der Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de