Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Amtsvormundschaften für Frauen

Kaiser-Wilhelm-Straße 85, Landesamt für Rehabilitation, Sozialtherapeutische Dienste
ab 1990: Simon-von-Utrecht-Straße 4a


Rüdiger Pohlmann , März 2021
Von 1984 bis 1989 und dann mit Unterbrechungen bis 1993 war ich vorwiegend als Amts -Vormund in der Abteilung RE 4 (Landesamt für Rehabilitation) der Hamburger Sozialbehörde beschäftigt.
Bei einer Vollzeitstelle war man als Vormund für 80 erwachsene Mündel zuständig. Menschen die als Mündel bezeichnet wurden, waren zum Beispiel aufgrund von psychischen Erkrankungen bzw. Veränderungen, wegen einer Behinderung oder Alterserkrankungen wie Demenz, nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Es gab eine Vormundschafts - Abteilung für Frauen und eine für Männer. Pro Abteilung waren ungefähr 30 KollegInnen für insgesamt 5000 Mündel tätig.
Vorwiegend waren die KollegInnen SozialpädagogInnen. Hinzu kamen Beamte mit einer Verwaltungsausbildung. Ich selbst war in der Frauenabteilung angestellt und in meinem „Sachgebiet“ ausschließlich für Frauen zuständig.
1992 wurde die Vormundschaft für erwachsene Menschen aufgehoben. Das Betreuungsgesetz trat mit seinen emanzipatorischen Ansätzen die Nachfolge an. Eine allumfassende Entrechtung dieser Menschen gab es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Das Betreuungsgesetz regelt heute in welchen Lebensfeldern der Mensch Unterstützung und rechtliche Vertretung bekommen soll.
Die Geschlechtertrennung in den Sachgebieten wurde ab 1992 aufgehoben. Die Arbeit erfolgte nun nach regionalen Zuständigkeiten. Sie entsprach den Veränderungen vor Ort. Einrichtungen hatten ihre Trennung nach Geschlechtern bereits seit längerem aufgehoben.
Die Hälfte „meiner“ Mündel lebte im eigenen Wohnraum oder auf der Straße. Ihre Lebensumstände waren vorwiegend katastrophal. Ambulant - sozialpsychiatrische oder pädagogische Hilfen waren erst am Entstehen. Pflegedienste für ältere Menschen waren in den Stadtteilen bereits vorhanden.
Die anderen 40 Frauen / Mündel wohnten in stationären Einrichtungen: in Pflegeheimen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Großeinrichtungen der Langzeitpsychiatrie.
Für ältere Menschen hatten wir Heimaufnahmen vorzunehmen, die Wohnungen aufzulösen und die geschlossene Unterbringung rechtlich abzusichern.
8 bis 10 Frauen der insgesamt 80 Mündel pro Sachgebiet, lebten in Rickling in Schleswig-Holstein, einem psychiatrischen Krankenhaus für LangzeitpatientInnen mit einem zusätzlichem Akutbereich. Die PatientInnen waren dort bereits seit 40, 30 oder 20 Jahren untergebracht. Sie wurden medizinisch versorgt, erhielten ihre Medikamente, gingen zur Beschäftigung. Die älteren Frauen saßen oft apathisch in den Gruppenräumen und warteten auf die nächste Mahlzeit. Gruppen- und Gesprächsangebote entstanden nur ganz langsam. Mein Eindruck war, man hatte die Frauen aufgegeben – „austherapiert“. Durch die Verlegung der PatientInnen nach Rickling in Schleswig-Holstein hatte die Stadt Hamburg ihre Verantwortung nach auswärts, wo die dortigen Einrichtungen auch günstigere Pflegesätze hatten, abgegeben.
Maximal 4 x im Jahr durften wir die Mündel außerhalb von Hamburg besuchen. Für weitere Besuche wurden keine Fahrtkosten von Seiten der Arbeitgeberin, der Sozialbehörde, erstattet. So wurde über die Zahlung der Fahrtkosten auch die Inhalte der Arbeit gesteuert. Es gab keine Pflicht für uns VormünderInnen diese 4 Besuche durchzuführen. Manche KollegInnen fuhren nur 1 bis 2 x im Jahr nach Rickling oder in eine der anderen auswärtigen Einrichtungen. An so einem Tag besuchte man als Vormund „seine“ 8 bis 10 Mündel. Für den einzelnen Kontakt hatte man knapp 30 Minuten Zeit.
War ein Mündel bei dem Besuch seines Vormundes verhindert, dauerte es Monate bis wieder ein Gespräch mit ihrem / seinem Vormund möglich war. Nur wenige Frauen waren in der Lage, uns anzurufen oder zu schreiben. Private Telefonanschlüsse oder Anschlüsse pro Wohneinheit gab es nicht. Man musste entweder in den Ort fahren oder die MitarbeiterInnen bitten, das Diensttelefon benutzen zu dürfen.
Wünsche nach Veränderungen oder neuen Lebensvorstellungen waren bei den Frauen kaum zu ermitteln und selten vorhanden. Das Vertrauen zu uns VormünderInnen war gering. Die Frauen hatten sich mit ihrem ausweglosen Schicksal abgefunden.
Die vorgetragenen Wünsche bezogen sich auf den eigenen kleinen Lebensradius. Man wollte etwas mehr Taschengeld, oder sich ein Kleidungsstück kaufen und bat uns VormünderInnen um eine Geldüberweisung. Eigene Konten bestanden nicht. Eine Auszahlung war nur möglich, wenn man eigenes Geld hatte und nicht nur Taschengeld im Heim erhielt. Manche VormünderInnen, insbesondere die älteren KollegInnen, kamen selbst diesen Wünschen nicht nach. Sie unterstellten Verschwendungssucht. Kleinlich kontrollierten sie die Wünsche. Leider gibt es diese Einstellung bei einigen rechtlichen BetreuerInnen heute wieder. Die Selbststärkung der Menschen mit rechtlicher Betreuung ist noch lange nicht abgeschlossen. Die große Herausforderung im Betreuungswesen bleibt die Betreuung auf Augenhöhe.
Ab und an äußerten einige PatientInnen den Wusch einer Rückkehr nach Hamburg. Derartige Äußerungen wurden vorwiegend von den AmtsvormünderInnen nicht ernst genommen. Nur wenige LangzeitpatientInnen hatten Kontakt zu ihren Familien oder eine Verbindung nach Hamburg. Die Sehnsucht nach Beidem war enorm groß.
Weihnachts - und Geburtstagskarten, die wir als VormünderInnen den Frauen schrieben, waren oft die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie standen auf den Nachtschränkchen der Mündel. Jährlich wurden die Karten ausgewechselt, für mich ein Bild der Hoffnungslosigkeit.
Das jahrelange Anstaltsleben zeichnete das „Erscheinungsbild“ der Frauen; zittrige Hände, Fingerkuppen vergilbt vom Rauchen der Zigaretten bis auf den letzten Zug, starre Gesichtszüge und traurige Blicke.
Kaffee und Rauchen, Koffein und Nikotin, bestimmten viel zu häufig den Alltag, um der Müdigkeit durch die Medikamente zu entkommen.
Am Anfang meiner Arbeitszeit gab es in Rickling noch verdeckte 8 Bettzimmer. In der Mitte getrennt durch Schrankwände. So lebten jeweils vier Frauen im vorderen Bereich und vier im hinteren. Die Frauen im hinteren Zimmerbereich lebten dort ohne direkten Fensterblick / Tageslicht und das teilweise seit Jahrzehnten. Es gab aber auch „schon“ eine Vielzahl an echten Vierbettzimmern in der Klinik.
Rund um das Krankenhaus Rickling waren kleine Pflegeeinrichtungen entstanden, für die sogenannten Dauerfälle. Man erwartete bei diesen Menschen keine Veränderungen, Verbesserungen oder Heilungen mehr. Trotzdem waren immer wieder PatientInnen froh dort zu leben. Hier gab es öfters Zweibettzimmer. Einige Bauern hatten ihren Hof um eine solche kleine Pflegeeinrichtung erweitert. Andere hatten ihren gesamten Bauernhof zum Pflegeheim umgewandelt.
Bereits 1975 hatte das Heimgesetz Mindestanforderungen für Heime aufgestellt. Auch kleine Pflegeeinrichtungen mussten ein Minimum an qualifiziertem Personal beschäftigen. So wechselten einige MitarbeiterInnen aus dem Krankenhaus in die kleinen Einrichtungen. Der Ortswechsel veränderte aber nur selten den klinischen Blick auf die Frauen / Mündel. Diese blieben die Bärbel, die Anni, die Gerda.
Rickling hatte mehrere Außenstellen. Dazu gehörte Kuhlen mit drei großen Wohngebäuden und einer Beschäftigungstherapie. Hier war zur NS-Zeit ein KZ- Außenlager. Eine kaum zu erkennende Gedenktafel erinnerte an diese Zeit.
Unweit von Kuhlen verlief am Waldesrand eine kleine Allee. Es wurde erzählt, dass sich dort einige Patientinnen prostituierten. Für fünf Mark oder eine Schachtel Zigaretten. Was für eine traurige und erbärmliche Not.
Die Kunden kamen aus dem Umland. Sie fuhren mit ihren Autos die Allee entlang, um sich ein Mündel auszusuchen.
Warum wir als VormünderInnen der Sache nicht nachgingen und uns empörten??? Wollte keine/r von uns die Frauen schädigen? Da Sanktionen seitens der Klinik nicht auszuschließen waren, wie Ausgehverbot??? Ein Einmischen unserseits in die Abläufe und in den Alltag der Klinik war nicht vorgesehen. Oder wollten wir lieber nicht wissen, welche Frauen sich prostituierten??? Da wir keinen Ausweg aus diesem Dilemma sahen??
Um den Ricklinger PatientenInnen einen Rückzug nach Hamburg zu ermöglichen, begannen wir jüngeren VormünderInnen alternative Einrichtungen zu suchen. Wir hatten die Wünsche der ersten mutigen Mündel nach einer Rückkehr erhört und angenommen. Selbst froh endlich etwas bewegen zu können.
Die 1980 ziger waren im Bereich der Psychiatrie die Zeit des Umbruchs. Anfänglich wollte die Mehrzahl der Mündel in Rickling bleiben. Sie wagten noch nicht den Schritt nach Hamburg. Alte Ängste und Zweifel tauchten auf, das gewohnte gab Sicherheit. Vorbereitungskurse für einen Ortswechsel gab es leider nicht. Außerdem gab es Anfang der neunziger Jahre Stück für Stück auch in Rickling Einzel – oder Zweibettzimmer.
Ab 1990 erhielt ich einen Stellenanteil, um die Rückkehr der PatientInnen nach Hamburg voranzubringen. Der Senat hatte den Verbänden der Sozialpsychiatrie versprochen neue Wohnformen in Hamburg zu fördern. Das Rauhe Haus übernahm, als erster Träger, diese Aufgabe für die Ricklinger PatientInnen. Es entstand ein Wohnprojekt mit Wohngemeinschaften und Einzelzimmern. Die bisherige medizinische, klinische Versorgung der Mündel übernahmen niedergelassene Ärzte. Die Alltagsbegleitung war pädagogisch ausgerichtet.
In einer Art Auswahlgremium (Aufnahmeausschuss), bestehend aus den jeweils zuständigen VormünderInnen, der ärztlichen Leitung vom Krankenhaus Rickling, der pädagogischen Leitung des Rauhen Haus und meiner Person, mussten wir zusammen eine fachliche Einschätzung zur „Rückkehrfähigkeit“ der Mündel abgeben. Ich bewilligte danach die Kosten im Einzelfall und gab hierzu eine fachliche Stellungnahme ab.
Die ärztliche Leitung von Rickling wehrte sich massiv gegen die Auszüge. Sie blockierte das Projekt, und erst nach Einschaltung der „oberen“ Diakonie konnten wir erfolgreich das Rückkehrprojekt starten. Wir mussten aber weiterhin um jeden einzelnen Menschen ringen. Zu dieser Zeit stand die traditionelle Psychiatrie, mit ihrer Verwahrung von Menschen und der ausschließlichen Behandlung mit Medikamenten in Konkurrenz mit der Sozialpsychiatrie und der Sozialpädagogik. Heute gibt es ein differenziertes Netz an ambulanten Hilfen und Einrichtungen. Selbstverständlich nutzen die Kliniken diese Strukturen. Die unterschiedlichen Professionen ergänzen sich und haben verstanden, wie wertvoll Zusammenarbeit ist.

Zivildienst auf St. Pauli September 1976 bis Dezember 1977 in der Haus-und Altenpflege der Kirchengemeinde St. Pauli – Süd
Rüdiger Pohlmann, Februar 2021 – August 2023
Im Rückblick kann ich sagen, dass meine Zeit als Zivildienstleistender nicht nur prägend für meinen beruflichen Weg war. Meine Vorstellung von einer „guten Welt“ bekam hier seine feste Verankerung.
Ich habe auf St. Pauli die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Lebenswegen und Schicksalen kennengelernt. Ihr Lebensmut, ihre Gradlinigkeit, ihr Humor, ihr Talent das Leben zu akzeptieren, ihre Toleranz und manchmal auch ihre Vorteile zeigten mir, dass es wichtig ist, immer den Menschen zu sehen. Denn die reine Verwaltung von Schicksalen verletzt jeden Menschen und verhindert die Begegnung auf Augenhöhe.
Meine Einsätze in der Haus- und Altenpflege erfolgten vorwiegend bei Frauen.
Rentnerinnen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten. Sie lebten als Witwen oder schon immer allein, da der Bräutigam im Krieg gefallen (getötet worden) war.
Andere hatten sich bewusst gegen eine Beziehung / Ehe entschieden.
Sie hatten alle den Krieg überlebt. Einige hatten alles verloren in diesem mörderischen Krieg, die Kinder, die Eltern, den Geliebten, Freunde, Angehörige. Viele waren im Krieg ausgebombt worden. Andere aus ihrer Heimat geflohen und in Hamburg gestrandet. Sie waren Arbeiterinnen, oft in den nahegelegenen Fischfabriken, zogen allein ihre Kinder groß, hatten kleine Renten. Das Klischee von St. Pauli als Vergnügungsviertel erfüllten sie nicht.
Ich hoffe sehr, dass meine aufgeschriebenen Geschichten den Frauen gerecht werden.
Die Namen der Frauen wurden selbstverständlich geändert.

Die erste Grüne?
Frau Seefeldt, einst Musiklehrerin, lebt in einer anderthalb Zimmerwohnung im Neubauviertel. Sie ist der Natur, den Pflanzen und den Tieren tief verbunden. Für sie ist es Gottes wunderbare Schöpfung. Zu ihren Mitmenschen hält sie Abstand.
Es gab Beschwerden aus der Nachbarschaft. Wegen Geruchsbelästigung und Taubenfütterung wurde das Amt eingeschaltet.
Ich habe den Auftrag erhalten, bei ihr auf „Ordnung“ und „Sauberkeit“ zu achten.
Wie ich meine Aufgabe umsetzen soll, sagt mir keiner. Ich bin 21 Jahre alt und Zivildienstleistender und sie eine Frau von 75 Jahren mit Lebenserfahrung.
Sie trägt immer einen grauen Rollkragenpullover und eine schwarze Trainingshose.
Tags wie nachts legt sie sich auf ihr Sofa zum Ausruhen oder Schlafen. Ein Bett gibt es in ihrer Wohnung nicht.
Ich bezweifele, dass sie zur Nacht Rollkragenpullover und Trainingshose auszieht.
Ein permanenter Duft von Räucherkerzen überdeckt alle anderen Gerüche.
Ihr heiliges Refugium, wie sie es selbst nennt, das halbe Zimmer, darf ich nie betreten. Durch den Türspalt sehe ich bis zur Decke gestapelte Bücher.
Im Wohnzimmer steht ihr verstaubtes Klavier. Sie hat mir untersagt, es sauberzumachen, da ich als unmusikalischer Mensch es nur verstimmen würde.
Neben dem Sofa stehen einige Wassereimer. In jedem der Eimer steht ein Strauch, ein abgebrochener Ast, den sie „gerettet“ hat.
Sie erklärt mir, dass jeder Ast oder Strauch einmal blühen muss. Nur so könne er sein Inneres entfalten. Ich sage ihr nicht, dass alles bereits vertrocknet ist.
In der verdreckten Küche sitzen in einem Pappkarton zwei flugunfähige Tauben. Sie hegt und pflegt die Vögel. In die Freiheit kann sie die Tauben nicht entlassen, sie befürchtet, böse Menschen würden die Tiere vergiften.
Wenn ich um konkrete Aufgaben bitte, legt sie sich auf das Sofa und schließt die Augen.
„An so etwas kann ich im Moment nicht denken. Ich muss jetzt einige Partituren in Gedanken durchspielen!“
Schweigend sitze ich meine Zeit in ihrem Wohnzimmer ab.

Schamesröte
Frau Hormann treibt mir immer wieder mit ihren Äußerungen, ihren Geschichten, ihrem Vokabular, ihrer Häme Schamesröte in mein Gesicht. Sie liebt es, mich in Verlegenheit zu bringen.
Oft bin ich schockiert und doch gibt es dabei auch die andere Seite, den Blick hinter die Kulissen, in die „perverse“ Welt der Spießer. Mir wird klar, dass manch tugendhafter, renommierter Biedermann eine zweite Seite hat.
Meine bisherige Furcht vor diesen Männern verschwindet. Letztendlich sind sie nichts Besonderes.
Einmal in der Woche bin ich bei der sechzigjährigen Frau Hormann im Einsatz. Obwohl ich von der Kirchengemeinde komme, macht sie gleich klar, dass sie mit der Kirche nichts zu tun haben will.
„Schlepp mir hier bloß keinen Pfaffen an. Sind auch nur geile Männer!“
Vor einigen Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Hinkend läuft sie durch die Wohnung. Ihre linke Körperseite ist gelähmt. Ansonsten hat sie keine Beeinträchtigungen.
„Weißt Du, ich habe eben zu viele Tabletten geschluckt. Um wach zu bleiben oder um einzuschlafen. 16 Stunden im Puff stehst du sonst nicht durch!“
Sie selbst bezeichnet ihre Tätigkeit im Bordell als Hausmutter.
„Auf meine Mädels habe ich aufgepasst. Bei mir im Haus war alles picobello. Meine Abrechnungen stimmten bis auf die Null hinter dem Komma. Die Kasse hat immer gestimmt. Tja, die Buchhaltung habe ich bei den Nazis gelernt, da gibt es nichts!“
„Wenn die Geschäfte gut gelaufen sind, gab es auch mal einen Betriebsausflug. Mit dem Taxi von Hamburg nach München zum Oktoberfest!“
„Junge, guck nicht so blöd, je perverser der Biedermann, desto mehr Kohle gab es für uns!“
Ihre unverblümten Beschreibungen über Sexualpraktiken der Kunden baute sie in ihren Erzählungen gekonnt ein. Ein Entfliehen gab es für mich nicht.
Jetzt soll ich sie aus dem Krankenhaus abholen. Das Anziehen des BH’s bereitet ihr mit einer Hand Schwierigkeiten.
„Junge, jetzt schieb die Dinger in den BH. Sonst hängen wir hier ewig rum!“
Direkte körpernahe, pflegerische Tätigkeiten gehören nicht zu meinen Aufgaben.
Ihre beiden Bettnachbarinnen starren auf uns.
„Nun glotzen Sie nicht so. Der fast meine Dinger jeden Tag an!“
Mit hochrotem Kopf renne ich in das Schwesternzimmer.
„Bitte helfen sie mir. Sie müssen unbedingt kommen!“
„Sollen wir auch den Arzt rufen?“

Gegensätze
Gutgelaunt verabschiede ich mich nach einem gemeinsamen Frühstück von Frau Kaufmann. Gerne bin ich bei ihr im Einsatz. Ihre Geschichten aus guten und schwierigen Zeiten sind für mich ein lebendiger Geschichtsunterricht. Als gelernte Schneiderin und Kriegerwitwe hat sie allein zwei Töchter großgezogen. Sie ist immer ein optimistischer Mensch geblieben. Ihre Lebensfreude ist einfach ansteckend.
Umso mehr liegt mir der nächste Einsatz bei der siebzigjährigen Frau Burg auf dem Magen. Sie spricht nur wenige Sätze mit mir. Über sich, ihr bisheriges Leben, ihre Erfahrungen spricht sie nie. „Was soll ich erzählen. Wer will schon hören, wie ein Leben auf der Schattenseite aussieht!“ Dabei spuckt sie verächtlich auf den Fußboden.
Selbst über Alltägliches kommen wir nicht in ein Gespräch.
Schweigend erledige ich meine Aufgaben. Haargenau beobachtet sie mich dabei.
Ich fühle mich wie eine hilflose Maus, die von einem Falken ins Visier genommen wird.
Zum Abschied zieht sie ihre schmuddelige Strumpfhose herunter und greift in den gelblichen Schlüpfer. Hier hat sie ihr Geld versteckt. Sie nimmt einen Zehnmarkschein heraus und drückt ihn mir in die Hand.
„Keine Widerrede, halt den Mund. Ich bleibe keinem etwas schuldig!“
Drei Wochen später besuche ich sie im Pflegeheim.
Nachdem sie auf der Straße zusammengebrochen ist, lebt sie in einem Vierbettzimmer im Heim. Frischgewaschen, in sauberem Nachtzeug, liegt sie im Bett.
Auf meine Frage, wie es ihr geht, antwortet sie knurrend:“ Siehst du doch. Das Grünzeug -sie zeigt auf meine mitgebrachten Blumen - hättest du dir sparen können!“ Sie dreht sich um und schweigt.
Schweigend sitze ich noch einige Zeit an ihrem Bett. Es bleibt still zwischen uns. Ich verabschiede mich. „Hätte nie gedacht, dass jemals einer zu mir kommt. Danke!“ Und zieht die Bettdecke über ihren Kopf.
Zwei Tage später teilt das Heim ihren Tod mit.

Stehlampe mit Wirkung
Regelmäßig hole ich, als Zivildienstleistender, Gretchen mit dem Rollstuhl zu den Veranstaltungen in der Altentagestätte ab. Mit ihren 54 Jahren ist sie dort die jüngste Besucherin.
Sie möchte unbedingt von allen geduzt werden. Wenn man sie siezt, rollt sie mit den Augen. Für die älteren Frauen in der Tagestätte ist sie fast wie eine Tochter. Sie, die einst als Putzfrauen oder am Fließband in der nahen Fischfabrik arbeiteten, haben Gretchen in ihrer Mitte aufgenommen.
Gretchen kommt aus dem Milieu. Vor ihrem Schlaganfall, der einige Jahre zurückliegt, war sie Bardame in einem Traditionsbordell auf St. Pauli. Jetzt ist sie rechtsseitig gelähmt. Ihre Sprache hat sie für immer verloren.
Wenn sie etwas möchte, zeigt sie mit der linken Hand auf den Gegenstand und stammelt…dadada. Reicht man ihr den richtigen Gegenstand, ist sie hocherfreut und presst ein jajajaja heraus. Versteht man sie falsch, reagiert sie mit einem neinneinnein, verbunden mit einem heftigen Kopfschütteln.
Wir verständigen uns mit Blicken und Gesten. Wenn sie sich nicht ausdrücken kann, laufen ihr, in tiefer Verzweiflung, Tränen über die Wangen. Wenn sie lacht, strahlt ihr ganzes Gesicht. Dabei wippen ihre roten Haare.
Sie lebt in einem tristen, schmalen Hinterhaus in einer Kellerwohnung.
Die mickerige Bepflanzung der kleinen Vorgärten bringt keine Farbe in den Durchgang zwischen den Häusern. Fußgängerinnen nutzen diesen, der zwei laute Straßen verbindet, als Abkürzung. Die Häuser sind grau gestrichen. Fensterscheiben sind mit Zeitungspapier zugeklebt. Überall bröckelt die Farbe ab. Ein paar Stufen hinab geht es in Gretchens Kellerwohnung. Neben ihrem Eingang geht eine zweite Tür in den Abfallkeller des Hinterhauses.
Ohne Hilfe kann sie die Wohnung nicht verlassen. Nur ein paar Schritte kann sie mit dem Stock in der Wohnung gehen.
Die Pflegerinnen der Diakonie müssen sie am Bett waschen. Die Waschschüssel füllen sie mit warmem Wasser aus dem kleinen Boiler, der über der ramponierten Küchenzeile hängt, denn in der Toilette gibt es nur einen Wasseranschluss für kaltes Wasser. Ein Bad gibt es nicht. Heizradiatoren sollen die Wohnung warmhalten.
Morgens und abends wird sie von den Pflegerinnen an- und ausgezogen.
Einen Einsatz zum Mittag hat das Amt abgelehnt. So werden ihr für mittags bereits am Morgen die Brote geschmiert.
Zwischen den Einsätzen der Pflegerinnen sitzt Gretchen auf dem Sessel und sieht durchgängig Fernsehen. Schaut sie aus ihrem Fenster, sieht sie nur die Beine der Passanten, die den Durchgang durcheilen. Den Himmel sieht sie nie.
Es ist unklar, wer ihr die Unterkunft besorgt hat und auch, wer die Miete zahlt.
In der Altentagestätte gibt es hierzu einige Vermutungen. Es könnte ihr Ex – Chef sein? Oder ein Freund? Oder ein gutsituierter Freier aus alten Zeiten? Denn ein paar Mal traf die Pflegerin zufällig einen gut gekleideten Herrn bei Gretchen, der bei ihrem Eintreffen aber sofort wieder wortlos verschwand.
Von diesem Herrn hat Gretchen vor Kurzem eine Stehlampe geschenkt bekommen. Sie liebt diese Stehlampe über alles.
Der goldene brokatartige Lampenschirm mit Fransen, auf einem Messingständer, hebt sich von den zusammengewürfelten Möbeln, die an Sperrmüll erinnern, vollkommen ab. Alles wirkt durch diese Lampe noch trister. Mit ihrer linken Hand kann sie zum An – und Ausschalten der Lampe an einer Kordel ziehen. Dabei strahlt sie vor Freude.
Wir drei, die Pflegerin, die Sozialarbeiterin und ich sind noch nicht lange in der Kirchengemeinde beschäftigt. Wir sind uns einig, die unwürdige Lebenssituation von Gretchen muss umgehend beendet werden. Denn es ist erbärmlich, wie sie wohnen muss. Es ist uns unverständlich, warum diese Situation nicht schon längst angeprangert wurde.
Mit vereinten Kräften und nach zähen Verhandlungen mit dem Sozialamt, das bisher nur den Lebensunterhalt und die nicht ausreichende, häusliche Pflege gezahlt hat, kann Gretchen in eine neue Wohnung ziehen.
Und von den Besucherinnen der Altentagesstätte wird so manches zum Haushalt beigesteuert. Täglich bringe ich sie jetzt zur naheliegenden Tagestätte.
Aus ihrer hellen Wohnung im Erdgeschoss betrachtet Gretchen mit großer Freude das Treiben auf der Straße. Ihr Stolz, die Stehlampe, hebt sich vor der rosa Blümchen- Tapete wohltuend ab.
Auf unserer dreiwöchigen Altenfreizeit liebt sie den gemeinsamen Abendspaziergang in kleiner Runde. Während ich sie im Rollstuhl schiebe, muss ich immer wieder die Geschichte erzählen, wie ich ihre Stehlampe, quer über die Reeperbahn, in die neue Wohnung gebracht habe. Das gute Stück sollte ja beim Umzug nicht beschädigt werden.
Sie liebt diese Geschichte. Die Vorstellung, dass ich mit der Lampe an ihrem alten Arbeitsplatz vorbeiging, löst bei ihr jedes Mal Lachsalven aus.

Puschen
Junge, komm bald wieder, bald wieder nach Haus
Junge, fahr nie wieder, nie wieder hinaus
Ich mach mir Sorgen, Sorgen um dich
Denk auch an morgen, denk auch an mich

Lautstark dröhnt das Lied von Freddy Quinn aus der Kneipe. Die Musikbox steht direkt neben der offenen Tür. Bevor ich im nächsten Eingang, mit der Aufschrift ,Pension‘, die knarrende Holzstiege zu Frau Pauls hinaufgehe, werfe ich noch einen kurzen Blick in die verrauchte Gaststube. Um neun Uhr morgens sitzen nur einige Männer am Tresen, vor sich eine Flasche Bier und ein Schnapsglas. Offensichtlich haben sie auf St. Pauli die Nacht durchzecht. Ihre Köpfe ruhen auf ihren verschränkten Armen, die auf dem Tresen liegen. Ab und an hebt einer den Kopf, brüllt lallend ,Junge komm…‘ bevor er wieder in sich zusammensackt.
Im Treppenhaus zu Frau Pauls brennt eine nackte, funzelige Glühbirne. Das verschliessene Linoleum bedeckt die ausgetretenen Stufen. Im ersten Stock, in einem Wirrwarr von Gängen und Türen, liegt ihre kleine Wohnung. Ihr Leben spielt sich in der Wohnküche ab. Das Sofa steht an der Wand, davor ein Esstisch mit zwei Holzstühlen, gegenüber auf einer kleinen Kommode ein Fernseher. Küchenschrank, Herd und Handstein ergänzen den Raum, von dem ihre kleine Schlafkammer abgeht und eine weitere Tür zur Schlafstube. Die hat sie an ein junges Pärchen vermietet. Ein Badezimmer gibt es nicht. Die Toilette befindet sich auf dem Gang der Pension.
Von ihren Untermietern weiß sie nur: „Die kommen von Drüben. Genau wie ich damals. Ich glaube, die wurden freigekauft!“ Dem jungen Paar begegne ich nie.
Die Mieteinnahme benötigt sie dringend. „Ich war ja nur Putze. Habe nur eine ganz kleine Rente. Zusammen mit der Mieteinnahme komme ich über die Runden. Ich will nicht beim Amt um Almosen betteln, so eine bin ich nicht. Sonst habe ich ja oft für die Mädels eingekauft, also Mittag geholt und so.
Die konnten dann durchgängig kobern, damit nicht ein Freier zu einer anderen ging. Wenn das Geschäft lief, waren die Mädels mit dem Trinkgeld immer großzügig. Das war ein gutes Zubrot. Aber jetzt mit 72 und meiner Arthritis, das schaffe ich nicht mehr!“
Frau Pauls ist eine kleine, zierliche Person. Sie trägt immer einen schwarzen Kittel, der fast bis zu ihren Fußknöcheln reicht. Braune Puschen zieren ihre Füße. Das Haarnetz und die Hornbrille verleihen ihr ein strenges Gesicht. Oft schaut sie missmutig in die Welt. Schmerzen bestimmen ihren Alltag. Ich erfahre nie, ob sie Verwandte oder Freunde hat. In der ganzen Wohnung hängt kein einziges Familienfoto. Sie wirkt auf mich sehr einsam. Aber wenn wir zusammen lachen, bleiben die Lachtränen, wie wunderschöne Perlen, am unteren dicken Brillenrand hängen.
Obwohl ihr das Laufen schwerfällt, führt sie täglich ihren schwarzen Zwergpudel aus. Den wöchentlichen Großeinkauf erledige ich. Wenn ich sitzend auf dem Sofa den Einkaufszettel schreibe, liegt der Pudel neben mir, sein Kopf auf meinem Oberschenkel. Bei dem Anblick strahlt Frau Pauls: „Ja, ja, meine beiden!“
Einmal die Woche geht sie in das Wannenbad im St. Pauli Bad. Im Sommer zieht sie nur ihren braunen Bademantel über den Kittel. In die schwarze Einkaufstasche kommen frische Unterwäsche, Badeutensilien und ein Handtuch. In Puschen geht sie vorbei am Wienerwald und der Davidwache zum Spielbudenplatz. Auf dem Rückweg kauft sie im Wienerwald ein halbes Grillhähnchen. „Das leiste ich mir, das ist mein Festtag!“
Am Ende meines Zivildienstes drückt sie mir zum Abschied lange die Hand. Mit Tränen in den Augen sagt sie: „Junge, komm bald wieder, denk auch an mich.“

Die Handtasche
Fensterputzen bei Tante Hertha ist für mich ein großes Vergnügen. Ihre Wohnung liegt nur wenige Meter von unserem Kirchenbüro entfernt. Mit einem herrlichen Blick auf die Elbe. Aus ihren Wohnzimmerfenstern sehe ich den Fluss. Mal ganz ruhig wie ein glattes Tuch, mal mit hohen Wellen, die auf die Kaimauern klatschen. Ein reger Schiffsverkehr zieht an meinen Augen vorbei. Containerschiffe werden in oder aus dem Hafen geschleppt. Die Taue der Schlepper erscheinen mir immer viel zu dünn, um diese riesigen Pötte zu ziehen. Barkassen schlenkern und wippen am Anleger. Die Fähre nach Finkenwerder ergänzt das Motiv. Bei gutem Wetter glitzert und funkelt der Strom von den Sonnenstrahlen. Möwen kreischen, sie sagen mir, putze die Fenster und träume nicht.
Beim Fensterputzen erweisen sich die Sonnenstrahlen als Hindernis. Sie hinterlassen blinde Flecken und Streifen auf dem Glas. Aber da ist Tante Hertha nicht so genau. Hauptsache alle 14 Tage werden die Fenster geputzt. Allein schon wegen der Nachbarn.
Nach getaner Arbeit gibt es bei Tante Hertha immer ein Stück Kuchen. Als Getränk schenkt sie mir Leitungswasser mit verdünntem Himbeersirup ein, wie ich es von meiner Oma kenne. Ich liebe diese Mischung.
Tante Hertha ist eine kleine, kugelrunde, redselige Frau. Die Geschichten aus ihrer Arbeitszeit sind beeindruckend. Jahrzehnte hat sie am Fließband in der Fischfabrik gearbeitet. Fische ausnehmen und putzen waren ihre Aufgaben. Frühmorgens begann die Arbeit in den kalten Hallen. Dicke Kleidung war auch im Sommer erforderlich. Mit kaltem Wasser wurden die Fische gesäubert. Die Hände von Tante Hertha haben seitdem eine rissige Haut. Gummistiefel gehörten zur Arbeitskleidung, denn das Wasser zum Säubern der Fische lief vom Fließband auf den Boden. Und oft in die Gummistiefel. Entsprechend litt die Haut der Beine. Sie ist schuppig und brüchig. Tante Hertha trägt im Sommer gerne keine Strümpfe. Sie schämt sich zwar wegen ihrer Beine, aber ohne Strümpfe fühlt sie sich wohler. Mein Vorschlag, ich könnte ihr ja die Beine eincremen, lehnt sie ab. „Also Jung, so eine bin ich nicht. Von den Männern einsalben lassen. Und in deinem Alter solltest du dich nicht um alte Frauenbeine kümmern!“
Heute steht kein Kuchen auf dem Tisch. Sie druckst verlegen herum, bis es aus ihr herausplatzt.
„Rüdiger, ich schäme mich so. Ich habe eine Dummheit gemacht. Vielleicht kannst du mir aus der Patsche helfen? Man muss ja auch mal vor die Tür. Gestern, am Sonntag, habe ich einen kleinen Kneipenbummel gemacht. Nichts Besonderes. Nur hier so um den Hein - Köllisch - Platz herum. Dann bin ich versackt. Dabei habe ich meine Handtasche irgendwo stehen gelassen. Mit Schlüsselbund und Portemonnaie. Zum Glück haben meine Nachbarn einen Ersatzschlüssel und konnten mich reinlassen. Oh Gott, ist mir das peinlich. Ich kann doch jetzt nicht von Kneipe zu Kneipe laufen und die Tasche suchen. Hier, wo mich alle kennen.“
Es ist gleich 12.00 Uhr, jetzt werden die Kneipen bestimmt wieder geöffnet haben. Ich mache mich auf den Weg, die Handtasche zu suchen. Bereits in der dritten Kneipe finde ich sie. Leider habe ich keine große Einkaufstasche dabei, um die Handtasche darin zu verstauen. Ich nehme sie einfach in die Hand. Ich überquere gerade den Hein - Köllisch – Platz, als mir zwei Bauarbeiter grölend hinterherrufen: „Hallo Süßer. Du bist ja ein hübscher Handtaschenschwinger!“
Mit knallrotem Kopf eile ich weiter. Prustend laufe ich die Treppe zur Wohnung hoch. Erfreut öffnet Tante Hertha die Tür: „Junge, was hast du denn so einen roten Kopp? So schwer ist die Tasche ja nun nich

Abschied
Das Jahr 1977 geht zu Ende.
Ich nehme Abschied von meiner Zeit als Zivildienstleistender in der Kirchengemeinde St. Pauli-Süd, Abschied von 16 Monaten in der Haus- und Altenpflege, Monaten mit einmaligen Begegnungen, mit besonderen Menschen, prägend für mein ganzes Berufsleben. Für mich müsste diese Zeit nie enden.
Ich habe so viel Anerkennung erfahren, Humor erlebt, Schicksale gesehen und manches Mal mitgetragen.
Noch heute besitze ich den langen roten Schal. Ein Geschenk von Frau Schlörk. Sie hat ihn in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann, einst Kommunist und Kämpfer gegen die Nazis, aufbewahrt. Zum Abschied wickelt sie ihn mir um den Hals. „Ich glaube, du wirst für uns Alte kämpfen!“
Die Dauerraucherin Frau Klein drückt mir zum Abschied fünf Mark in die Hand. Sie bezieht Sozialhilfe und fünf Mark sind viel Geld für sie.
Ich will ihr das Geldstück zurückgeben. Mit ihrer rauchigen Stimme und bärbeißigen Art, hinter der sie sie ihre Empfindlichkeit versteckt, drückt sie mir das Geldstück fest in die Hand. „Weißt du, mit dir haben wir hier in der Altentagesstätte so viel gelacht. Das tat so gut. Du hast dich nie vor der Arbeit gedrückt. Du hast nie nach dem Feierabend geschielt. Jetzt nimm das Geld und halt den Mund. Das ist jetzt nicht der Rede wert!“
So ist Frau Klein, wenn sie etwas für richtig hält, wird es auch durchgesetzt.
Im 2. Weltkrieg gehörte sie zu einer kleinen nachbarschaftlichen Gruppe, die einer versteckten jüdischen Familie zu überleben verhalf. Das erfahre ich zufällig. Sie selbst erwähnt es nicht. Eben nicht der Rede wert.
Frau Bosin hat zum Abschied unzählige Ratschläge für mich. Ich soll auf alle Fälle Sport treiben.
Auf unserer dreiwöchigen Altenfreizeit im Frühjahr ist sie jeden Morgen 20 Minuten um das Haus gelaufen. Sie war die erste Joggerin, die ich erlebte.
Ganz besonders waren ihre abendlichen Geschichten. Wenn sie erzählte, blieb kein Auge trocken.
Großgeworden im Hamburger Gänge Viertel, mit Gemeinschaftsklo auf halber Treppe, gab es natürlich auch Klo-Geschichten von ihr zu hören.
„Ich sitze als kleine zierliche Person auf der Toilette, als die schwerhörige, korpulente Nachbarin sich rückwärts in das besetzte Häuschen schiebt.
Meine Rufe hört sie nicht. In meiner Verzweiflung und aus Angst erdrückt zu werden, beiße ich ihr in das Gesäß.“
Neben dem Ratschlag Sport zu treiben, erhalte ich den Ratschlag, immer auf mein Gebiss zu achten.
Mein Herz ist bis heute erfüllt von diesen einmaligen Menschen.

Alfons schummelt !
Eine Geschichte aus der rechtlichen Betreuungsarbeit in Hamburg, über eine erwachsene Frau mit Behinderung und ihren Vorstellungen über das eigene Leben im Jahre 2007.
Am Nachmittag bin ich bei Helga zum Kaffeetrinken eingeladen. Seit Kurzem ist sie Rentnerin. Jahrzehnte hat sie in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Ihre Arbeit hat sie verlässlich und mit Freude ausgeführt.
Ich bin gespannt, wie sie jetzt ihren Alltag meistert.
Kennen gelernt haben wir uns vor ein paar Jahren auf einem politischen Bildungsurlaub in Berlin. Sie als Teilnehmerin, ich als Veranstalter.
Am Ende der Bildungsreise fragte sie mich, ob ich ihr rechtlicher Betreuer werden könnte. Die Welt würde ihr allmählich zu kompliziert. So wurde ich ihr Betreuer.
Zu ihrem Leben gehört auch Alfons. Er ist seit Jahrzehnten ihr Begleiter und Vertrauter.
Alfons lernte ich bereits während der Bildungsreise kennen. Er schaut oft vorwitzig aus Helgas Rucksack heraus. Alfons ist ein kleiner Stoffaffe, an einigen Stellen ist sein Fell abgescheuert.
In Berlin blieb er bei unseren Terminen, sei es an Gedenkorten oder im Bundestag, versteckt im Rucksack. „Weißt du Rüdiger, im Rucksack bekommt er ja auch alles mit. Denn wenn die Menschen einen kleinen Affen bei mir sehen, denken sie, ich bin wie ein Kind. Ich bin aber eine erwachsene Frau!“
In Hamburg besuchten Helga und ich eine Veranstaltung zur Erinnerung an die Opfer der NS – Euthanasie. Ganz leise flüsterte sie mir zu:“ Was ein Glück, dass ich erst später ins Heim kam. Sonst hätte man mich auch getötet!“

Alfons hatte sie zu der Veranstaltung nicht mitgenommen. Sie wollte ihn mit diesem traurigen Kapitel der deutschen Geschichte nicht belasten.
Jetzt beim Kaffeetrinken erzählt sie von ihrem neuen Alltag als Rentnerin. Regelmäßig spielt sie mit ihrer Puppe Elvira und Alfons, zu dritt Mensch Ärgere Dich nicht! Helga würfelt und setzt die Figuren für alle drei.
„Helga, da kannst du ja immer für dich mogeln und gewinnen!“
„Also Rüdiger, ich mogele nie. Aber bei Alfons muss ich sehr aufpassen, er schummelt zu gerne!“ 1)
Texte: Rüdiger Pohlmann