Ursula de Boor Dr. med. Ursula (Monika) de Boor, verheiratete Seemann
(3.3.1915 Kirchhain bei Marburg – 5.5.2001 Marburg)
Ärztin und überlebendes Mitglied des Hamburger Kreises der Weißen Rose, einer Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus
Lohmühlenstraße 3/5, Krankenhaus St. Georg (Wirkungsstätte)
Martinistraße 52, Kinderkrankenhaus Eppendorf (Wirkungsstätte)
Namensgeberin für Ursula-de-Boor-Straße (benannt 2015)
Ursula de Boor war die Tochter der Schriftstellerin und Lyrikerin Lisa de Boor (1894 – 1957), in eine Lehrerfamilie bei Marburg geborene Elisabeth Hüttel. Mit 18 Jahren heiratete Lisa Hüttel Wolfgang de Boor, einen Offizier, der aus gesundheitlichen Gründen bald den Dienst quittierte. Beide begannen 1914 in „Holstein ein Siedleranwesen im Rahmen lebensreformerischer Bestrebungen zu bewirtschaften“ (Nachwort v. „R.G.“ zu Lisa de Boor, „Tagebuchblätter“ 1963, S. 245).
Zum Hintergrund des „Widerständigen“ mag beitragen, dass Ursula de Boor, wie ihre beiden Brüder, von dieser sozial-reformerisch engagierten Familie geprägt war, „die aus tiefer Überzeugung das Hitler-Regime und dessen Verbrechen als Macht des Bösen verneinten“ (Klappentext zu „Tagebuchblätter“). Ihre Mutter Lisa machte sich einen Namen als Lyrikerin und Schriftstellerin. Nach ihrer Rückkehr nach Marburg/Lahn wurde Lisa de Boor zur Mitbegründerin der Marburger Christengemeinschaft und 1927 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. In ihren 1963 publizierten, durchgängig geschriebenen Tagebuch aus den Jahren 1938-1945 hielt sie die Weltereignisse wie in einem Zeitraffer stichwortartig fest. Ihr Monolog gibt Entwicklungen in ihrer Umgebung und dem weitverzweigten Freundeskreis der Familie wieder; im alltäglichen Überlebenskampf schöpfte Lisa de Boor Hoffnung, Kraft zur Vergebung und für gesellschaftliches Engagement aus ihrer stetigen Beschäftigung mit ihrem christlichen Glauben, aus Bibel und Kunst. In ihre „Tagebuchblätter“ reihte sie ihre geliebte Gartenarbeit neben ihre konspirative Unterstützung, so etwa von Zwangsarbeiter_innen aus der Umgebung, und integrierte die dramatischen Erlebnisse rund um ihre demente Mutter, ihre Kinder und Enkel. Ihre Tochter Ursula nannte sie bei ihrem zweiten Vornamen „Monika“.
Ursula de Boor kam 1940 von Heidelberg nach Hamburg und arbeitete zunächst im Hilfskrankenhaus St. Georg als Assistenzärztin. Im Oktober 1941 wurde sie in die Kinderklinik des Universitäts-Krankenhaus Eppendorf (UKE) versetzt. Ihr Chefarzt war Prof. Dr. Rudolf Degkwitz [1], gleichzeitig Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Hamburg. Dort war sie maßgeblich am Aufbau einer Gruppe von jungen Ärzt_innen, und Medizinstudierenden beteiligt, die sich in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem NS-Regime zusammenfanden. Über persönliche Kontakte, insbesondere über die Medizinstudenten Frederick Geussenhainer und Albert Suhr, war die Gruppe mit weiteren Widerstandskreisen in Hamburg verknüpft. Diese versammelten sich rund um die Buchhandlungen „die Agentur“ des Rauhen Hauses, Felix Jud und Conrad Kloss oder im „Musenkabinett“. Über diese Kontakte erfolgte auch der Austausch mit der Münchener Gruppe der „Weißen Rose“. Erst nach 1945 benannte die Forschung diesen Zusammenhang als Nebenzweig der Weißen Rose oder auch Weiße Rose Hamburg. Der Begriff „candidates of humanity“ jedoch wird in der aktuellen Forschung kritisiert und sollte nicht mehr verwendet werden, da es als Zitat aus einem Werk von Sir John Woodroffe eine zur Absicht der Hamburger Widerstandsgruppe widersprüchliche Aussage macht (vgl. van den Bussche 2014: S. 381, Anm. 175). Ursula Seemann (geb. de Boor) jedenfalls habe sich nicht erinnern können, dass dieser Name je von den Beteiligten selbst benutzt wurde (a.a.O.).
Nachdem die Gestapo Dr. med. Ursula de Boor am 20. Dezember 1943 mittags verhaftet hatte, wurde sie in der Jugendarrestanstalt Bergedorf und ab dem 8. Januar 1944 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel in Einzelhaft untergebracht. Erst am 20. Februar erhielten die Eltern einen Brief mit dieser Information. Wenig Tage darauf reiste die Mutter Lisa de Boor im Zug nach Hamburg, vorbei an den Ruinen von Kassel und Hannover. Im Kinderkrankenhaus Eppendorf hörte sie, dass noch Weitere mit ihrer Tochter verhaftet worden waren. Trotz zweimaliger Versuche „an der Gestapo-Pforte“ verwehrte man ihr einen Besuch bei ihrer Tochter. Die inhaftiere Ursula (Monika) de Boor schien zunächst noch guten Mutes. Ihre Mutter notierte am 8. März 1944: „Es kommt ein schöner, starker Brief von Monika. Sie ist gesund, die Wärter sind gut zu ihr. Sie lebt, abgeschlossen wie sie ist, ganz im musischen Element, singt mit Vorliebe Choräle“ (Tagebuchblätter, S. 174).
Endlich im Mai erfuhren die Eltern: Der Haftgrund lautete: „Abhören feindlicher Sender und Weitergabe der Nachrichten, Ausleihen verbotener Bücher und Schriften, Teilnahme an kommunistischen Versammlungen.“
Obwohl sich der Gesundheitszustand von Lisa de Boor verschlechterte, ihr Mann chronisch krank war, reiste sie nach Berlin, um die damalige Referentin für Recht an der Reichsfrauenführung um juristischen Beistand zu bitten. Diese habe sich aufgeschlossen gezeigt (Tagebuchnotiz v. 27. 4.1944, S. 179). Aufgrund einer persönlichen Intervention des Vaters Wolf de Boor („der Polizeigeneral in Hamburg ist ein ehemaliger Regimentskamerad“) erhielt seine Tochter minimale Hafterleichterung, sie durfte durch ihre Freunde zusätzliche Lebensmittel überbracht bekommen, eine Zeitung abonnieren und medizinische Fachliteratur lesen. „Aus Monikas Brief geht hervor: Sie weiß von den Weltereignissen“ (Tagebuchblätter v. 21./22.9.1944, S. 198).
„Nach 10 Monaten Einzelhaft wurden sie und 18 andere Mitglieder der Weißen Rose Hamburg in das Untersuchungsgefängnis Hamburg-Stadt am Holstenglacis gebracht. Die Anklage gegen sie lautete, wie bei 23 weiteren Inhaftierten aus ihrem Freundeskreis (insgesamt 30 ihrer Mitglieder waren Ende 1944 in Hamburg verhaftet worden; die Gestapo hatte aus Bespitzelung und Verrat gesetzt): Vorbereitung zum Hochverrat.
Am 6. November 1944 wurde Dr. Ursula de Boor als Untersuchungsgefangene dem Volksgerichtshof überstellt und Anfang November zunächst mit acht Frauen in das Frauenzuchthaus Cottbus verlegt. Dazu schrieb ihre Mutter in ihr Tagebuch: „22. November: Wir haben Gottlob wieder Kontakt mit Monika. Sie ist an einem ganz düsteren Ort in der Untersuchungsabteilung vom Frauenzuchthaus Cottbus, nur schwer überwindet sie die Schockerlebnisse des Transportes“ (Tagebuchblätter, S. 208). Nach der Verlegung in das Gefängnis Leipzig-Kleinmeusdorf wird sie mit Hannelore Willbrandt (s.dort) und 500 Gefangenen in das Gefängnis St. Georgen in Bayreuth verlegt.
Die Anklage erfolgte wegen „Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung und des Rundfunkverbrechens“ im Verfahren gegen Albert Suhr, Hannelore Willbrandt, Dr. Ursula de Boor, Wilhelm Stoldt und den Buchhändler Felix Jud. Das Verfahren sollte in Bayreuth durchgeführt werden, da das Gebäude des Volksgerichtshofes in Berlin aufgrund der alliierten Bombenangriffe am 3. Februar 1945 zerstört worden war. „Sie wurde mit den übrigen Gefangenen, nachdem das Stadtgefängnis von Bayreuth bei einem Luftangriff im April schwer getroffen worden war und man die Insassen in ein Waldlager vor Bayreuth geschafft hatte, am 14. April von amerikanischen Truppen befreit.
Es dauerte noch vier Wochen, bis sie sich mit anderen aufmachen konnte, um zu Fuß die Heimat zu erreichen. In Marburg gab es für sie vier Wochen Erholung. Dann kehrte sie nach Hamburg zurück, um ihren Beruf wieder aufzunehmen“ (Nachwort von R.G. , in: Tagebuchblätter, S. 243).
Ursela de Boors ehemalige Lehrerin Erna Stahl setzte sich in einem Brief an Schwester Lotte für die Möglichkeit eines Erholungsaufenthaltes für Ursula de Boor ein.
So schrieb sie an Schwester Lotte:
Egestorf, 1. Juli 45
Verehrte liebe Schwester Lotte!
Nach allem, was mir Ursel von Ihnen erzählt hat, weiß ich, daß Sie mit dem umgeänderten Plan völlig einverstanden sein werden. Es war nicht leicht, das Mädchen zur Vernunft zu bewegen – aber schließlich glückte es doch. Gott sei Dank!
Sie darf auf keinen Fall in ihrem jetzigen Zustand der Labilität sich in die Arbeit stürzen – dabei noch all die Laufereien um ein Zimmer etc, ohne jemanden, der ihr ein wenig hilft. Sie braucht unbedingt noch eine Zeit der Ruhe und ich glaube, sie findet die nirgendwo so gut wie bei Ihnen. Ein oder zwei Wochen sind ja im Grunde noch viel zu wenig, aber zu mehr wird sie keinesfalls zu bewegen sein. Ich bitte Sie, liebe Schwester Lotte, sehr, sehr herzlich, sich Ursels anzunehmen und sie auch gegen ihren Willen zu veranlassen, die kurze Zeit wirklich zu ruhen. Sie muß meiner Meinung nach viel liegen, möglichst keine Menschen um sich haben, das heißt also nicht reden, sich unterhalten und dergleichen. Dabei gibt sie sich in ihrer lebhaften Art nämlich so sehr aus, daß sie hinterher ganz erbarmungswürdig erschöpft und elend aussieht und ist. […]
Das Gefängnis hat seine Spuren hinterlassen, auch wenn man’s eigentlich nicht merkt und glaubt, man könne gleich so weitermachen wie man seinerzeit gelebt hat. Es geht aber nicht.
[…] verschaffen Sie ihr nach Möglichkeit viel frische Kost – und seien Sie nicht bös über so viel Zumutungen einer Ihnen bislang noch unbekannten Person! – Was die Lebensmittelkarten angeht, hoffe ich, daß Sie in dem Betrieb die Möglichkeiten haben Ursel vorerst so mit durchzufüttern. Was dann endgültig von ihr für 2 Wochen abgegeben werden muß, bekommen Sie durch mich auf dem Wege des Roten Kreuz-Autos aus Hbg [Hamburg]
Und wenn Ursel inzwischen mal wieder durchgehen will, halten Sie sie fest! Ich helfe im Geiste dabei!
Lassen Sie sich sehr, sehr herzlich grüßen und danken!
Ihre Erna Stahl
Wie lange und wo Ursula de Boor in Hamburg lebte und arbeitete, ist nicht bekannt. Sie und ihr Ehemann, Dr. med. Walter-Fritz Seemann, führten später eine Hausärztliche Praxis in Marburg/Lahn; sie lebten in Ihrem Elternhaus, Rotenberg 8 in Kirchhain und praktizierten möglicherweise auch dort (vgl Branchen-Einträge im Internet).
Text: Dr. Cornelia Göksu