Biografien-Datenbank: Frauen aus Hamburg

Hildegard Cohen

(1900 – deportiert 1942 ins KZ Auschwitz, ermordet)
Leiterin des Paulsenstifts von 1939 bis 1942
Eimsbütteler Chaussee 128 (Wohnhaus)
Stolperstein am Martin-Luther-King-Platz 3 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


Johann-Hinrich Möller schreibt in seinem Beitrag „Erinnerung an die von den Nationalsozialisten ermordeten Kinder, Betreuerinnen, Erzieher der ehemaligen Hamburger Waisenhäuser Papendamm 3 und Laufgraben 37“ über Hildegard Cohen, Leiterin des Paulinenstifts von 1939 – 1942: „ Über die verzweifelte Not der letzten Zeit im Paulinenstift wäre kaum etwas bekannt, wenn nicht vier Briefe aus dem Jahre 1941 erhalten geblieben wären, die Hildegard Cohen an ihre Freundin Trude Simonsohn in New York gerichtet hat. Durch Vermittlung von Trude hoffte Hildegard auch ihren Verlobten Max Warisch zu erreichen, den sie in einem Lager in Südfrankreich gefangen wußte; direkt konnte sie ihm nicht schreiben. So sprach sie in den Briefen an die Freundin manchmal auch Max an.
Hildegard Cohen war 1934 als Jüdin aus ihrem geliebten Lehrerinnenberuf entlassen worden. Sie hatte sich seitdem mit kaufmännischer Tätigkeit und privaten Sprachstunden für Erwachsene einigermaßen durchgeschlagen, sehnte sich aber nach der Arbeit mit Kindern und war daher trotz aller Bedrängnis glücklich über ihre neue Anstellung. ‚Im Paulinenstift habe ich mich vollkommen eingearbeitet, es kommt mir vor, als ob ich hier schon ewig wäre‘, schrieb sie am 7. Januar 1941 an ihre Freundin. Dabei verschwieg sie nicht ihre bedrückenden Sorgen: Vergeblich wartete sie mit ihrer Mutter, ihrem Bruder Waldemar und dessen Verlobter Lotti Schreiber auf die Einreisepapiere in die USA, obwohl alle nötigen Schritte längst in die Wege geleitet worden waren. Am meisten quälte sie jedoch der Gedanke an das Schicksal ihres Verlobten. Am 19. Oktober 1941 berichtete sie Trude Simonsohn: ‚Daß ich sehr deprimiert bin, könnt Ihr Euch wohl denken. Doch andererseits bin ich gefaßt und hoffe nur, daß wir es alle gesundheitlich überstehen werden. Stellt Euch einmal vor, in den letzten 14 Tagen hatten wir bei uns im Heim 30 alte Leute zusätzlich untergebracht, jetzt sind sie schon wieder weg. Ihr werdet mir kaum glauben, wie mir diese zusätzliche Arbeit Freude gemacht hat. Ich hatte nie gedacht, daß ich so gut mit alten Leuten fertig werden kann.‘
Tag für Tag änderte sich die Situation. Am 22. Oktober brachte die Post Einschreibbriefe in viele Häuser, in denen Juden wohnten, auch in die Waisenhäuser am Papendamm und am Laufgraben. Sie enthielten eine furchtbare Nachricht von der Geheimen Staatspolizei: ‚Ihre Evakuierung nach Litzmannstadt ist angeordnet.‘ Der ‚Evakuierungs-Befehl‘ betraf mehrere Kinder in beiden Heimen. Wieder mußte gepackt werden, wieder gab es Abschied; und wie anders war dieser Abschied als vor wenigen Jahren, wenn die Ausreise in ein Land bevorstand, das Rettung bedeutete! Am 2. November schrieb Hildegard Cohen: ‚Am 22.10., als so viele meiner Bekannten sehr traurige Post bekamen, Ihr wißt wohl, um was es sich handelt, erhielt ich Deinen lieben Brief. Er war so herzlich und gut geschrieben, daß ich Dir nur von Herzen dafür dankbar sein kann. Es ist gut zu wissen, daß man so treue Freunde hat wie Ihr es seid, und doch, Ihr seid so weit entfernt und könnt uns dadurch so wenig helfen und Euch auch vielleicht nicht richtig in unsere Situation hineindenken. Auf jeden Fall heißt es für uns, Zähne zusammenbeißen und hoffen und zu Gott bitten, daß Ihr alle etwas für uns tun könnt. Noch ist unsere Familie beisammen und wir sind alle gesund. Aber mit unseren Nerven sind wir alle überreizt. Auch in meiner Arbeitsstätte hat sich bereits vieles geändert und Arbeit bringt dies alles so viel, daß eine Nacht durchschlafen fast wie ein Märchen klingt... Mein liebes Maxchen, die schöne Zeit, die wir hier gemeinsam verlebten, erscheint mir nur noch wie ein Traum. Und trotzdem hatten wir damals schon Sorgen, aber sie scheinen einem heute wie ein Nichts.‘
Wenige Tage später gab es erneut Evakuierungsbefehle, und wieder waren auch Kinder der Waisenhäuser betroffen. Hildegards letzter Brief vom 12. November 1941 spiegelt ihre tiefe Verzweiflung wider: ‚Viel Neues habe ich Dir nicht zu berichten, nur daß Waldy am Sonnabend verreist ist. Wann meine Mutter und ich ihm folgen, wissen wir noch nicht. Wir müssen alles dem Schicksal überlassen, Du kennst ja meinen Bruder, er ist ein tapferer Kerl, und ich hoffe, daß er auch trotz der Schwierigkeiten durchhalten wird. Meine Schwägerin ist mit ihm gegangen, diese Möglichkeit bestand, und bekanntlich ist es ja so, daß geteiltes Leid halbes Leid ist. Meine Mutter ist jetzt vorläufig bei mir im Heim, wo sie sich verhältnismäßig wohl fühlt und wohlfühlen kann, denn alle sind besonders nett zu ihr. Unser Heim hat sich allerdings auch sehr verkleinert, denn alle auswärtigen Zöglinge sind zu ihren Eltern zurückgekehrt, und außerdem haben wir andere auch verloren, da sie mit meinem Bruder zusammen sind. Daß ich natürlich aufs tiefste deprimiert bin, kannst Du und all die anderen Lieben Dir wohl denken, doch heißt es, den Kopf hochhalten, vor allem für mich, die ich ein Heim zu leiten habe. Aber wie schwer fällt mir dieses manchmal!!! Ottis Freundin ist schwer erkrankt, sie liegt auf Leben und Tod im Krankenhaus, man kann ihr nur wünschen, daß es mit ihr zu Ende geht. Von dir, lieber Max, hörte ich auch schon lange nichts mehr, hoffentlich geht es wenigstens Dir einigermaßen. Wer hätte das gedacht, daß wir noch einmal so getrennt würden, ob wir uns wohl je wiedersehen? Ich bezweifle es. Und trotz allem habe ich Arbeit in Haufen, aber jetzt ist es nicht mehr so, daß die Arbeit einen die Sorgen vergessen läßt, sondern sie übermannen einen so, daß sie einen bei der Arbeit lähmen und man nichts Reelles schafft. ... Ihr Lieben, wenn Ihr wieder einmal etwas für uns tun könnt, vergeßt uns nicht, aber das brauche ich Euch ja nicht erst zu schreiben, ich weiß, daß uns ein ewiges Band der Freundschaft umschließt, auch wenn wir nichts mehr voneinander hören sollten. Für heute seid alle sehr, sehr herzlich gegrüßt von Eurer sehr traurigen Hildy.‘
Schon im Sommer 1941 war die Haushaltungsschule aufgelöst worden. Kurz nach den November-Deportationen mußte Hildegard Cohen mit den restlichen Kindern und Mitarbeiterinnen des Stifts zum Waisenhaus am Papendamm 3 umziehen. Das Haus am Laufgraben wurde unter der Leitung von Julius Gottschalk ‚Jüdisches Alters- und Pflegeheim‘, bis auch die letzten dieser Alten und Gebrechlichen in den Tod geschickt wurden - mit ihnen die Familie Gottschalk. Am Papendamm 3 herrschten Not und Enge, da auch dieses Haus jetzt neben den Kindern alte Menschen aufnehmen mußte. Im Juni 1942 wurden sie gezwungen, nochmals zusammenzurücken. Mehr als 70 Kinder mit ihren Lehrern und Lehrerinnen waren auf Antrag der Hamburger Schulverwaltung aus ihrem Schulhaus an der Carolinenstraße 35 vertrieben worden und wurden nirgends aufgenommen. Im hoffnungslos überfüllten ‚Schlößchen‘ drängten sie sich an fünf Vormittagen in der Woche zusammen und erhielten einen notdürftigen Unterricht, bis auch diese ‚Schule‘ am 30. Juni 1942 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Nur wenige Tage später kam der Deportationsbefehl für Hildegard Cohen, ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und 14 Zöglinge des Waisenhauses, die Jüngsten noch nicht drei Jahre alt. Hildegards Mutter war inzwischen gestorben. Am 10. Juli 1942 begann der Transport zu einem unbekannten Ziel. Dr. Berthold Simonsohn, ehemals Geschäftsführer der Bezirksstelle Nordwestdeutschland der ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‘, schrieb am 9. August 1946 an Trude Simonsohn, die seit dem Kriegsende vergeblich nach ihrer verschollenen Freundin geforscht hatte: ‚Frau Hildegard Cohen aus Hamburg habe ich gut gekannt. Sie hat zuletzt das Waisenhaus am Papendamm geleitet. Sie ist am 10.7.1942 mit den Resten des Waisenhauses in einem Transport abgefahren, der angeblich hätte nach Warschau gehen sollen. Er ist jedoch höchstwahrscheinlich nach Auschwitz gegangen und man hat nie von einem Transportteilnehmer ein Lebenszeichen erhalten. Ich selbst habe sie zusammen mit ihren Kindern noch auf dem Bahnhof Ludwigslust zuletzt gesprochen. Sie fuhr mit den Kindern zusammen und war sehr gefaßt, zumal ja auch niemand diese Art des Schicksals von uns geahnt hatte.‘“
Text auch: Johann-Hinrich Möller: Erinnerung an die von den Nationalsozialisten ermordeten Kinder, Betreuerinnen, Erzieher der ehemaligen Hamburger Waisenhäuser Papendamm 3 und Laufgraben 37, Juni 2006, S. 2-4, unter: www.stolpersteine-hamburg.de/dateien/Doku_Waisenhaeuser.pdf