Helene Sillem
(geb. 2.8.1871 – ?)
Kirchenvorsteherin, Vorsitzende der Ortsgruppe Hamburg des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes
Gemeindehaus der St. Jakobi Kirchengemeinde, Jakobikirchhof 22 (Wirkungsstätte)
Hagedornstraße 20 (Wohnadresse)
1919 wurde die in der Hagedornstraße 20 im vornehmen Stadtteil Harvestehude wohnende Helene Sillem zur Kirchenvorsteherin von St. Jakobi gewählt. Sie kam aus einem gläubigen Elternhaus. Ihr Vater, Dr. Carl Hieronymus Wilhelm Sillem, hatte Theologie studiert und später die Bülowsche Erziehungsanstalt für Knaben in Bergedorf übernommen. 1875 war er Oberlehrer an der Höheren Hamburger Bürgerschule geworden und hatte die Geschichte der hamburgischen Reformation geschrieben.
„Fräulein“ Helene Sillem war sechzehn Jahre lang Vorsitzende der im Jahre 1900 gegründeten sozial engagierten Ortsgruppe Hamburg des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes (DEF). Zu den Mitgliedern zählten viele Frauen aus Hamburgs „führenden“ Familien, so Clara Mönckeberg, Toni Petersen und Carlotta Sieveking, Ehefrauen und Töchter von Senatoren und Bürgermeistern. Die Konfessionszugehörigkeit spielte für den DEF eine wichtige Rolle. Denn die Mitglieder wollten nicht nur helfen, sondern auch sittlich und religiös beeinflussen.
Helene Sillem kümmerte sich besonders um die Deutsch-Evangelischen Arbeiterinnenvereine. Der DEF gründete in der Marschnerstraße 17 im Stadtteil Barmbek einen Arbeiterinnenverein für Hamburg und Umgebung und in der Freiligrathstraße im Stadtteil Hohenfelde einen Verein für Hausgehilfinnen. Außerdem wurden für Arbeiterinnen Teeabende veranstaltet und ein Abendheim für gewerblich beschäftigte Mädchen eingerichtet. 1902 gründete der DEF an der Jakobi Kirche eine Näh- und Flickschule mit dem Ziel, „arbeitslosen Frauen durch Handarbeit Verdienst zu verschaffen und ihnen zugleich Gelegenheit zu geben, sich unter Leitung von 2 tüchtigen Lehrerinnen in der Näharbeit weiter fortzubilden, um später höheren Ansprüchen genügen zu können und besseren Lohn zu erlangen. Arbeitsuchende werden sofort gegen Verdienst in Beschäftigung genommen. Bei der vielfach geringen Leistungsfähigkeit der Frauen wird als Lohn M 1 täglich für eine sechsstündige Beschäftigung von 9–3 Uhr und zwar ohne Abzug für Maschine, Garn usw. gezahlt. Die geübteren Frauen werden zur Übernahme gut besoldeter Beschäftigung in Privathäusern empfohlen. Arbeiten für öffentliche Anstalten, für Vereine und Privatpersonen werden jederzeit entgegengenommen“, [1] hieß es 1909 in Hermann Joachims Handbuch der Wohltätigkeit.
Die Grenzen der Frauenbewegung sah der DEF in der Unantastbarkeit der Vormachtstellung des Mannes. In einem vom DEF herausgegebenen Flugblatt hieß es dazu: „An der führenden Stellung des Mannes in Ehe und Staat [darf] nicht gerüttelt werden.“ Es sei auch keine „Beteiligung an den Lohn- und Klassenkämpfen beabsichtigt“. [2] So ist es nicht verwunderlich, dass der Jurist und Kunstförderer Gustav Schiefler in seiner „Hamburger Kulturgeschichte” folgende Beobachtung niederschrieb: „Inzwischen hatte die Frauenbewegung auch in der hamburgischen Gesellschaft Bürgerrecht erlangt. Aber nicht die Ortsgruppe des ADF [Allgemeiner Deutscher Frauenverein,] die viele jüdische Mitglieder zählte, sondern der vornehmere Deutsch-Evangelische Frauenbund […] erfreute sich ihrer Gunst.“ (zit. nach: Kirsten Heinsohn: Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg. Hamburg 1997, S. 250.)
Ca. 1934 legte Helene Sillem die Leitung der Ortsgruppe des DEF nieder, blieb aber Vorsitzende des Nordverbandes der neunzehn benachbarten Ortsgruppen, außerdem wurde sie 1931 in den Vorstand des Volkswachtbundes gewählt.
Helene Sillem setzte sich auch für eine bessere Stellung von Theologinnen in der Kirche ein. Nachdem Sophie Kunert (1896–1960) am 5. Februar 1928 von der evangelischen Kirche als erste Theologin eingesetzt worden war, durfte sie weder das Wort verkünden, noch die Sakramente verwalten. Theologinnen erhielten lediglich den Status einer Pfarramtshelferin. Helene Sillem äußerte sich dazu in ihrem Aufsatz „Das Pfarramt der Frau in Hamburg“: „So ist der Raum, der dem Pfarramt der Frau in der Hamburgischen Landeskirche zur Entfaltung eingeräumt ist, eng. Dieser jungen Pflanze wird im Garten der Kirche nur ein bescheidenes Plätzchen zugewiesen, und es ist für die Pionierinnen, die dieser Pflanze gern zu raschem Wachstum verhelfen möchten, schwer, sich mit dem engen Raum zu befreunden. Aber ist es nicht so, daß kräftige Pflanzen sich doch in ihrem Wachstum durchsetzen, wenn sie zuerst ihre Wurzeln recht tief und fest in die Erde gesenkt haben?“ [3]
Helene Sillem, die laut Hamburger Adressbuch 1941 in der Heilwigstraße 160 wohnte, die Adresse des evangelischen Damenstiftes Kloster St. Johannis, hatte während der Zeit des Nationalsozialismus noch einige Leitungsfunktionen im Deutsch-Evangelischen Frauenbund (DEF) inne. Damals war sie Vorsitzende des Nordbundes des DEF und im Vorstand des Volkswachtbundes. Laut Hamburger Adressbuch von 1933 befand sich bei Helene Sillem in der Heilwigstraße 160 auch die Geschäftsstelle des Volkswachtbundes.
Besonders der Kampf gegen die Prostitution hatte sich der DEF auf seine Fahnen geschrieben.
Die Gründung des Frauenwerkes 1933 soll, so Victoria Overlack in ihrem Buch über das evangelische Leben in Hamburg 1933-1945 auf die Tätigkeit des DEF „keinen großen Einfluss“ [4] gehabt haben. „So schrieb etwas die Vorsitzende des DEF Helene Sillem im Namen ihres Vereins am 7. August 1933 an den Hamburger Polizeisenator Alfred Richter, ihr sei ‚gerüchteweise‘ bekannt geworden, dass ‚einige der im Jahre 1922 aufgehobenen Bordellstrassen‘ wieder eingerichtet werden sollten. Sie äußerte sich auch im Namen ihrer Mitglieder empört darüber und führte weiter aus, sie könne sich ‚nicht denken, dass der neue nationalsozialistische Staat, dem wir von Herzen zugetan sind, zu einer solchen Maßnahme sich verstehen könnte‘. Sie bat den Senator zur Beruhigung ihrer Mitglieder um Aufklärung über den tatsächlichen Sachverhalt: Zur weiteren Erläuterung ihrer Position erklärte sie: ‚Wir verweisen darauf, dass der Führer Adolf Hitler in seinem Buch ‚Mein Kampf‘ sich gegen Bordellstrassen und für Konzentrationslager ausspricht. Dieser Gedanke des Führers trifft zweifellos das, was in der gegenwärtigen Stunde für diesen Personenkreis das Gegebene ist: dass man nämlich nicht unter staatlicher Duldung oder Reglementierung ihr Laster fördert, indem man sie in ‚Freudenhäuser‘ bringt, sondern dass man sie zu straffer Arbeit zwingt und sie, soweit das überhaupt noch möglich ist, zu einer geordneten sittlichen Lebensführung erzieht.
Die Unerziehbaren dürften als Schädlinge der Volksgemeinschaft besonders der Jugend in diesen Lagern am besten verwahrt sein.‘
Helene Sillem vertrat weiterhin den Standpunkt, der Staat müsse nun im Rahmen der Förderung der ‚Gesunden Familie‘ in allem Vorbild sein, und begrüßte die Tatsache, dass ‚heute mit einer straff geführten Polizei und einer nationalen Justiz‘ gerechnet werden könne, und im Rahmen der Neufassung des §16 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten eine Einrichtung von Bordellstraßen faktisch eigentlich gar nicht mehr möglich sei. Im Namen des Frauenbundes, der sich schon lange dem Kampf gegen ‚Unzucht‘ und ‚Unsittlichkeit‘ in der Großstadt Hamburg verschrieben hatte, begrüßte Sillem den nationalsozialistischen Staat. Wie ihre Ausführungen belegen, war dies auch deshalb möglich, weil die eigenen Ziele problemlos mit den vermeintlichen Zielen des nationalsozialistischen Staates in Deckung gebracht werden konnten. Unter einem Teil der engagierten evangelischen Frauen Hamburgs war demnach eine Geisteshaltung verbreitet, die der Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Staates Vorschub leistete“, [5] schreibt Victoria Overlack.
Text: Rita Bake